„Keine Panik“: Ein „Club 2“ für Mutige

„Keine Panik“: Ein „Club 2“ für Mutige teilenBühne

31. Januar 2023, 18:13 Uhr

Nur Mut, hat sich Ö1-Moderatorin Kristin Gruber wohl gedacht, als sie ein neues Format zwischen Late-Night-Show und journalistischem Talk ersann. „Keine Panik“ heißt die Serie, die über ORF Topos live zu erleben ist. In diesem „Club 2“ der roaring 2020er prallen diesmal Migrationserfahrungen auf kulturelle Stereotypen und Schablonen. Zu Gast sind Malarina und die kanadische Experimentalmusikerin Kasho Chualan.Gerald Heidegger

Formate mit unvorhersehbarer Gesprächsentwicklung könnten für den ORF seit dem „Club 2“, der ja bereits in den 1970er Jahren gestartet war, Tradition haben. Doch Traditionen halten sich gerade im Meer der Überangebote von Gesprächsformaten nicht immer. Deshalb probiert das RadioKulturhaus gemeinsam mit der Ö1-Journalistin Kristin Gruber ein neues Format aus: Late-Night-Talk trifft offenes Gespräch trifft Journalismus. Diesmal mit Fragen zu Identität und dem Brechen von Erwartungen. Zu Gast sind Marina Lacković, die als Malarina seit drei Jahren die Comedy-Szene aufmischt, und die kanadische Pianistin Kasho Chualan, die sich mit ihren musikalischen Experimenten in Wien niedergelassen hat.

Journalistin, Autorin und Performance-Künstlerin Kristin Gruber
Journalistin, Autorin und Performance-Künstlerin Kristin Gruber

Ran ans Eingemachte

Ans Eingemachte wolle man gehen, verspricht Moderatorin Gruber, die mit ihren Gästen heute Abend im RadioKulturhaus und live via ORF Topos schnell am Punkt landen könnte. Malarina, das Alter Ego von Lacković auf der Bühne, ist ja das Gegenteil der ehemaligen ORF.at-Mitarbeiterin, Komparatistik-Studentin und sozialisierten Tirolerin. Malarina ist rechts, weint Heinz-Christian Strache nach, hat einen fernerotischen Bezug zur Haider-Ära und ist in allem deutlich rechts eingestellt, was man der Autorin eher nicht unterstellen wird. Gerade mit der Ausrichtung ihres Programms trifft sie den Nerv der Irritation und ist auch, wie man seit verschiedenen Auftritten mitverfolgen kann, zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt.

Malarina ist Salzburger-Stier-Preisträgerin 2023. Es ist eine der traditionsreichsten Auszeichnungen des Genres, die seit 1982 an Kabarettistinnen und Kabarettisten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz verliehen wird. Vergeben wird der Salzburger Stier 2023 am 5. und 6. Mai in Linz bereits zum 42. Mal.

In ihrer politischen Satire stürzt sich Malarina auf die Triggerpunkte der österreichischen Geschichte gerade in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Jugoslawien. Ihr Programm „Serben sterben langsam“ beginnt eigentlich dort, wo Christopher Clarks „Schlafwandler“-Buch aufhört: bei den Schüssen von Sarajevo und den vielen Unversöhnlichkeiten der Geschichte, die im Alltag gebrochen werden – und im Bedarfsfall aus gar nicht so tiefen Schubladen hervorgekramt werden können.

Kabarettistin Malarina auf der Bühne
Kabarettistin Malarina

Wenn man immer gerne daran erinnert, die Deutschen seien die größte Ausländergruppe im Land – so ist diese Statistik ja schon ein Ergebnis des auseinandergefallenen Jugoslawiens und seines Vielvölkerkonglomerats, das am Anfang der Gastarbeiterbewegung nicht ausreichend differenziert in der Alpenrepublik wahrgenommen wurde. Im Verhältnis von Österreich und Serbien lassen sich verschiedene Daten der älteren und jüngeren Zeitgeschichte für eine aufblühende Vorurteilskultur mischen – und mit diesem Amalgam spielt Malarina so provokant wie wenige vor ihr. Als in Serbien Geborene hat sie beim Aufwachsen in Tirol als Kind einer Gastarbeiterin hinreichende Erfahrungen im nicht immer so verständnisvollen Umgang mit dem Anderen.

Pianistin Kasho Chualan
Pianistin Kasho Chualan

Eine Antichristin gegenüber der Klassik

Wie sehr kulturelle Brüche in der Konstruktion von Identität eine Rolle spielen können, wird auch die kanadisch-kurdische Pianistin Chualan reflektieren. Nicht zuletzt über ihre experimentelle Arbeit im Musikbereich, bei der sie, wie das Programm verspricht, als experimentell, traumhaft und als Antichristin der klassischen Musik auf der Bühne einfahren werde: traumhaft und mit dem Mut, das Neue in ihrer Sprache zu formulieren.

Gerald Heidegger (Text), ORF Topos

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Politoutfits unter der Lupe

Politoutfits unter der Lupe teilenModeAußenpolitikInnenpolitik

01. Februar 2023, 13:15 Uhr

In Zeiten von Message-Control müssen Politikerinnen und Politiker auch mit der Mode gehen – oder den ein oder anderen Tabubruch wagen. Von der Tracht als Symbolträger über die Handtasche als Knalleffekt bis zum Muskelspiel unter dem Slim-Fit-Anzug: Der Modejournalist Daniel Kalt analysiert in seinem neuen Buch die Outfits von Machthabenden.Nicola Eller

Es war der 30. Mai 2019, als Kalt die Vorstellung der ersten Bundeskanzlerin im Fernsehen mitverfolgte. Brigitte Bierlein, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, würde bis zu den Neuwahlen an der Spitze der Übergangsregierung stehen. Der „Ibiza-Skandal“ hatte das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zutiefst erschüttert. Was Kalt sofort auffiel, war der weiße Rüschenkragen, den die damals 69-Jährige Juristin für ihren Auftritt gewählt hatte. Er erinnerte ihn an den Jabot, den manche richterliche Talare beinhalten, und an die berühmten Krägen der amerikanischen Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg.

Bierleins Outfit war für Kalt „ein Verweis auf ihr richterliches Amtsverständnis“. Seine Stilkritik über das Outfit der neuen Bundeskanzlerin für die Tageszeitung „Die Presse“ ging sehr früh online und „hat unter den Leserinnen und Lesern ein bisschen für Unmut gesorgt“. Über die erste Frau an der Spitze einer Regierung schreiben und dann gleich ihr äußeres Erscheinungsbild analysieren? Dabei erzählen die Bekleidungsformen in der Politik und vor allem die Kleidercodes, die Frauen lange Zeit vorgeschrieben waren, auch viel über Machtverhältnisse und Diskriminierung.

Revolution im Anzug

Für sein Buch „Staat tragen. Über das Verhältnis von Mode und Politik“ nahm sich Kalt die Garderobe von Staatsmännern und -frauen der vergangenen Jahrzehnte vor und fand dabei spannende gesellschaftliche und kulturwissenschaftliche Hintergründe. In Deutschland etwa löste die Politikerin Lenelotte von Bothmer einen Skandal aus, als sie im Oktober 1970 in einem Hosenanzug eine Rede im deutschen Bundestag hielt. Kostüme und Kleider waren für weibliche Kongressabgeordnete auch in den USA bis Ende der 1980er Jahre obligatorisch.

  • Jörg Schmitt / dpa / picturedesk.comJoschka Fischer in SneakersJoschka Fischer leitete mit seinen weißen Turnschuhen eine modische Zeitenwende in der Politik ein
  • IMAGO/Thomas TrutschelAngela Merkel mit einfärbigen Blazer und schwarzer HoseAngela Merkel prägte ihren eigenen Stil: Stets mit schwarzer Stoffhose und einfärbigem Blazer
  • ORF.at/Roland WinklerEx-ÖVP-Chef Sebastian Kurz im Slim-Fit-AnzugDie Generation Slim Fit zeigt, wie trainiert sie ist. Hier: Ex-Kanzler und Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz.
  • IMAGO/ZUMA PressMargaret Thatcher mit König Fahd von Saudi Arabien mit Tasche in der HandMaggie Thatcher zeigte mit ihren Handtaschen nicht nur Stil – sondern knallte sie vor allem gerne auf den Tisch, um Argumente zu unterstreichen
  • APA/Herbert PfarrhoferArchivaufnahme von Alt-Kanzler Wolfgang Schüssel mit MascherlDas Markenzeichen von Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel war sein Mascherl – ein Alleinstellungsmerkmal auf der Politbühne
  • IMAGO/Peter HartenfelserJohanna Mikl-Leitner im Dirndl mit Landeshauptmann der Steiermark Hermann SchützenhöferNicht schwer zu dechiffrieren: Das Dirndl als volksnahe Alternative zum Hosenanzug, hier bei Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner
  • REUTERS/RIA Novosti/Pool/Alexei DruzhininWladimir Putin mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd sitzendWladimir Putin versucht, mit Maskulinität zu punkten und seinen autoritären Machtanspruch zu manifestieren

Als sich Hillary Clinton als demokratische Präsidentschaftskandidatin der Öffentlichkeit präsentierte, trug sie einen weißen Hosenanzug. Damit stach sie nicht nur aus einem Meer aus blau-weiß gestreiften Flaggen heraus. Die Farbe Weiß war auch ein Zeichen der Solidarität mit den Frauen. Kalt: „Besonders in der politischen Tradition der USA verweist die Farbe Weiß auf den Marsch der Suffragetten, also der Frauen, die sich für das Wahlrecht eingesetzt haben.“ 1918 demonstrierten in Washington, aber auch in London Tausende Frauen in weißen Kleidern auf den Straßen.

Vor allem demokratische Politikerinnen wie die Vizepräsidentin Kamala Harris trugen in den letzten Jahren bei ihren öffentlichen Auftritten oft einen weißen Hosenanzug. „Eine stille, wenn doch sehr beredte Kleiderform“, so Kalt.

Sendungshinweis: Eine Langfassung zu „Staat tragen“ ebenfalls zu sehen im kulturMontag am 30.1., 22.28 Uhr und bis 6.2. in der TVthek abrufbar.

Von der Föhnfrisur bis zum Turnschuh

Zu einem erfolgreichen Auftritt in der Politik ist Wiedererkennbarkeit ein wichtiges Element. Politikerinnen wie Margaret Thatcher wussten das genau. Als erste Frau an der Spitze der britischen Regierung zählte zu ihren wenigen modischen Vorbildern Queen Elizabeth II. Die Frisur der britischen Premierministerin wurde ebenso zu ihrem Markenzeichen wie ihre Handtasche.

Darin verstaute sie nicht nur ihre Unterlagen, erzählt Kalt. „Im Gesprächsverlauf mit politischen Gegnerinnen und Gegnern, aber zum Teil wohl auch mit Parteikolleginnen und -kollegen, hat sie gewisse Punkte dadurch unterstrichen, dass sie mit der Handtasche relativ vehement auf den Tisch geschlagen hat.“ Das Verb „to handbag“ hat es daraufhin in das Oxford Dictionary geschafft.

Regelbrecher auf leisen Sohlen

Von einer „Verturnschuhung“ der Politik war die Rede, als der Arzt und Grünen-Politiker Wolfgang Mückstein 2021 sein Amt als Gesundheitsminister antrat. Mit weißen Sneakers schritt er in der Wiener Hofburg zur Angelobung. Zufall oder nicht, hatte sich das ein Grünen-Politiker schon 36 Jahre vorher erlaubt. Joschka Fischer wählte für seine Angelobung zum hessischen Umweltminister 1985 weiße Turnschuhe.

Kalt sagt dazu: „Das war damals natürlich ein unglaublicher Bruch mit den Konventionen und eigentlich ein sehr vorhersehbares Kalkül. Aber das hat auch ausgereicht, um ihn einerseits als Politiker in Deutschland ganz klar zu verorten, als Tabubrecher, als Regelbrecher, und andererseits eben auch, um ihn zur Stilvorlage zu machen, bis in die Gegenwart.“ Fischers Turnschuhe seien in einem Augenblick, der als Beginn einer neuen Ära in der deutschen Innenpolitik gedeutet werden konnte, nur eines von vielen bedeutungstragenden Fragmenten gewesen.

Generation Slim Fit

Meist gekleidet in Dreiteiler und Stecktuch ist es dem SPÖ-Politiker Bruno Kreisky mit seinem äußeren Erscheinungsbild gelungen, auch bürgerliche Wählerschichten anzusprechen. Ebenso ließ sich der Kanzler im Skianzug und Tennisoutfit filmen, obwohl Slim-Fit-Politiker zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf der Politbühne aktiv waren. In den vergangenen 15 Jahren habe sich, so Kalt, ein Generationswechsel vollzogen.

Kalt: „Wer einen Anzug trägt, der die Körperform erahnen lässt, ist wahrscheinlich etwas sportlicher als ein Kollege, der einen weit geschnittenen Anzug bevorzugt. Da geht es auch um das Bekenntnis, eine gewisse Fitness oder Leistungsfähigkeit auszustrahlen, die sowohl im modernen Geschäftsleben wie eben auch im politischen Leben von immer größerer Bedeutung sein kann.“

Daher wird öffentlich gewandert und gejoggt, in moderner Active Wear oder traditionsbewusst in der Lederhose, und das Bildmaterial dieser Aktionen via eigenem Social-Media-Kanal in die Welt hinausgetragen. Viral ging das Video von Kamala Harris im sportlichen Outfit, als sie Joe Biden am Telefon den Wahlsieg verkündete: „We did it, Joe!“

Sakkopflicht im französischen Parlament

Beim Abschlussfoto des G-7-Gipfels vergangenen Sommer im deutschen Elmau verzichteten die Staatsoberhäupter – abgesprochen oder nicht – alle auf das Tragen einer Krawatte. Kurz vor den französischen Parlamentswahlen posierte der Spitzenkandidat Emmanuel Macron für ein Foto seines Instagram-Accounts mit offenem Hemd und üppiger Brustbehaarung.

Bei offiziellen Anlässen ist Macron stets adrett gekleidet, im Slim-Fit-Anzug von der Stange, aber die Parlamentarier sind für ihren legeren Umgang mit modischen Benimmregeln bekannt. Die französische Nationalversammlung hat daher im November die modische Reißleine gezogen und eine Sakkopflicht für männliche Abgeordnete angeordnet.

Nicola Eller (Text, Gestaltung), ORF TV Kultur, Bernhard Höfer (Kamera), für ORF Topos, Paul Krehan (Schnitt), für ORF Topos

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Die Frau, die ihrer Zeit voraus war

Die Frau, die ihrer Zeit voraus war teilenKulturKunstBildende Kunst

02. Februar 2023, 10:14 Uhr

Kommerz, Kitsch, Kunst – und dazwischen zwei weitere K: Kiki Kogelnik. Wenige Künstlerinnen aus Österreich wie auch aus Europa und Amerika wussten die Zeit mit ihren Widersprüchen so der Zeit voraus auf den Punkt zu bringen wie die in Graz geborene und in Bleiburg aufgewachsene Sigrid „Kiki“ Kogelnik. Wenn sie nun im Wiener Kunstforum eine Retrospektive bekommt, dann darf man darin sehr viel Zeitgeschichte des Umbruchs lesen – schon das Golden Age des Wiederaufbaus stellte Kogelnik ebenso auf den Kopf wie die Konsumgesellschaft und die Debatten der Gegenwart.Gerald Heidegger

Dass Kunst für ihre nachhaltige Wirksamkeit eine bestimmte Form von Zeitgenossenschaft verlangt, klingt wie ein abgedroschenes Klischee, ist aber im Fall von Kogelnik tatsächlich die Beschreibung einer Frau, die alle Chancen ergreift, die sich ihr in ihrer Zeit und der Beschränktheit der Welt im Österreich nach 1945 bieten. Wenige Menschen im Österreich des Wiederaufbaus haben die Potenziale von persönlichen Kontakten für die Internationalisierung des eigenen Blicks und der eigenen Haltung so genutzt wie die 1935 in Graz geborene Kogelnik.

Die „Galerie nächst St. Stephan“ des Monsignore Otto Mauer ist ebenso ein Platz der Gelegenheit wie alle Kontakte und alle Versuche, möglichst schnell in die Welt hinaus zu kommen – und das, was man in der Welt erlebt, in einer Sprache der Kunst eine Drehung weiter zu denken. Von Wien nach Paris und über den Kontakt zu Sam Francis rasch nach New York. Niemand war so schnell im Kopf und in der Umsetzung wie die schöne und selbstbewusste Kiki Kogelnik, die den Spitznamen, den ihr einer ihrer Brüder gegeben hat, zu einer unverkennbaren Trademark gemacht hat.

Die 1960er Jahre sind interessanterweise eine übersehene Zeit beim Blick auf das Gesamtwerk Kogelniks.

Bereits in den 1960er Jahren kannte Kogelnik sowohl die West- als auch die Ostküste der Vereinigten Staaten – und hatte als selbstbewusste, gestaltende Frau die guten Kontakte in die Szene der Zeit, und das war die größer werdende Pop Art. „Die 60er Jahre sind eigentlich eine vergessene Zeit im Werden der Kiki Kogelnik“, erzählt Kuratorin Lisa Ortner-Kreil bei einem Rundgang in der von ihr kuratierten Schau, die bewusst sehr die Werkphasen von Kogelnik ins Auge fasst – und dabei auch deutlich macht, warum diese Frau zwar als Vertreterin einer internationalisierten Pop Art aus Österreich gelten könnte, aber sich allen Schubladisierungen entzieht. „Sie war immer ihrer Zeit voraus“, erzählt Ortner-Kreil. Deswegen würde man Kogelniks Bilder, zum Beispiel ihr Werk „Desire“ (1973), das auch in der Schau zu sehen ist, immer um zwei Jahrzehnte nach hinten datieren.

„When you’re growing up in a small town
Bad skin, bad eyes – gay and fatty
People look at you funny
When you’re in a small town
My father worked in construction
It’s not something for which I’m suited
Oh – what is something for which you are suited?
Getting out of here.“

John Cale, Lou Reed: „Small Town“. Aus der Serie „Songs for Drella“ über Andy Warhol.

Weg mit dem Originalitätsanspruch

„Kogelnik sah eine bunte Stadt, als sie in den 1960er Jahren nach New York kam“, erzählt die Kuratorin, die diese Schau auch noch ins dänische Odense und nach Zürich bringen wird. Kogelnik habe ihre Künstlerkontakte, etwa zu Claes Oldenburg, aber auch zu der Gruppe um Andy Warhol, gewieft genutzt. Stets hat sie aber einen eigenen Ausdruck gefunden. So nimmt sie Umrisse ihrer prominenten Wegbegleiter ab und hängt sie als Latexschablonen über Kleiderbügel oder Wäscheleinen. Als Amerika auf dem Mond landet, begleitet Kogelnik dieses Liveereignis mit einer Serie von Siebdrucken: Originalität und Einzigartigkeit misstraute sie.

  • Kiki Kogelnik FoundationGemälde von Kiki Kogelnik zeigt farbenfrohe Körperteile mit Punktenn und Herzen kombiniert„Self-Portrait“, 1964, Öl und Acryl auf Leinwand
  • Kiki Kogelnik FoundationLeinwand mit schematisch gezeichneten Menschenfiguren und einem Kopf aus dem bunte Farblinien fließen„Robots“, 1966–67, Tinte und Buntstift auf Papier
  • Kiki Kogelnik FoundationKunstwerk von Kiki Kogelnik zeigt Silhoutte von Händen und Füßen„Fallout“, ca. 1964, Öl, Acryl und Vinyl auf Leinwand
  • Kiki Kogelnik FoundationKombination aus zwei Kiki Kogelnik Werken„Chandelier Hanging“, ca. 1970, Acrylaufhänger mit Vinyl und „Superserpent“, 1974, Öl und Acryl auf Leinwand
  • Kiki Kogelnik FoundationZwei Gemälde von Kiki Kogelnik„I Lost My Chewing Gum, 1960“ und „The Painter, 1975“
  • Kiki Kogelnik Foundation/John PrattArchivaufnahme von Kiki Kogelnik in ihrem Studio Kiki Kogelnik arbeitet in ihrem Studio in New York, 1965

Die Serialisierung der Pop Art war eigentlich die Botschaft, die sie mit in ihre Kunst nahm. Im Prinzip sind die Grafiken von Kogelnik zu Recht ihr in der Breite geschätztes Ausdrucksmittel. Ihre Kunst ist Hinterfragung, gerade aller Zwänge und aller Posten. Kommerz und Mode sind bei ihr die Träger von Ikonografie. Die Frauen, die sie darstellt, verweisen auf sie und sind zugleich entpersonalisiert. Und auch immer entsexualisiert.

Das Flächige ihrer Kunst sei eines der entscheidenden Momente der Wiedererkennbarkeit von Kogelnik, erzählt Ortner-Kreil. Über viele Werkphasen hinaus. Wer freilich die Anfänge ihrer Arbeiten sieht, darf eine aus der Farbwucht schöpfende Künstlerin erkennen, die auch aus den Arbeiten ihrer männlichen Zeitgenossen heraussticht.

Abstraktion mit Botschaft an den Geliebten

Die frühe Liebe zu Sam Francis, sie ist sogar in einem Werk zu erkennen, das nur durch Farben zu brillieren scheint. Tatsächlich haben sich aber die Initialen des ersehnten Mannes miteingeprägt. Wer spätere Arbeiten von Kogelnik in dieser Schau sieht, der entdeckt freilich auch die Enttäuschungen betrogener Liebe. Mitunter begegnen sich Kogelnik und Maria Lassnig in der Art, wie Körperteile zu skulpturhaften Torsi herausgelöst werden. Kogelnik hängt die weiblichen Geschlechtsorgane an ein Schaukelgestell. Die Entwertung der Sinne ist ihre Rache an der eigenen Betrogenheit.

„When you are growing up in a small town“, singt Lou Reed im Song „Small Town“, den er gemeinsam mit John Cale produziert hat. Der Song beschreibt den weiten Weg, den Warhol von Pittsburg nach New York genommen hat. Tatsächlich spielt die Nummer aber auf den noch weiteren Weg der ruthenischen Vorfahren aus der Kleinstadt in Osteuropa in die USA an.

Kogelnik wurde in ihrer Heimat in Bleiburg begraben. Hinterlassen hat sie aber eine kosmopolitische Biografie wie wenige Künstlerinnen und Künstler aus dem Österreich des 20. Jahrhunderts. Entscheidend in dieser Biografie, wie in der vieler Pop-Art-Künstler, ist aber die Selbstgestaltung dieses Weges: der Ausbruch aus der Herkunft und den Gestaltungskonventionen der eigenen Tradition. In diesem Sinn war Kogelnik, und das beleuchtet die Ausstellung bis in die spätesten Phasen, vielleicht sogar die größte Weltbürgerin der Bildenden Kunst nach 1945.

Gerald Heidegger (Text und Gestaltung), ORF Topos, Marcus Walter (Kamera), für ORF Topos, Kafeela Adegbite (Schnitt), für ORF Topos

Sendungshinweis: ZIB 1, 02.02.2023

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Koks, „#MeToo“ und Insta

Koks, „#MeToo“ und Insta teilenKritikKulturLiteraturFeminismus

12. Februar 2023, 06:00 Uhr

Mit ihrer Vernon-Subutex-Trilogie ist die ehemals als Skandalautorin bekannte Virginie Despentes beim französischen Publikum zum Star aufgestiegen. Mit „Liebes Arschloch“ hat sie einen psychologisch vielschichtigen modernen Briefroman über „#MeToo“ vorgelegt, in dem ihre Figuren Rollenbilder und Generationenfragen aushandeln. Wie Drogen und Alkohol die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen, hat sie besonders interessiert, wie sie im Interview sagt (siehe Videoclip oben).Florian Baranyi

Noch vor zwanzig Jahren war Despentes der fleischgewordene französische Klassenkampf. Im kleinbürgerlichen Milieu in Lyon weit von einer behüteten Kindheit aufgewachsen, debütierte sie 1993 mit „Baise-moi“ (zunächst in Übersetzung 2000 als „Wölfe fangen“ und später mit dem wörtlichen Titel „Fick mich!“ erschienen). Darin beginnen die beiden vergewaltigten jungen Frauen Manu und Nadine einen Rachefeldzug gegen Männer und ziehen mordend durch Frankreich.

Spätestens als Despentes ihren Roman zusammen mit der ehemaligen Pornodarstellerin Coralie Trinh Thi verfilmte und in Interviews von ihrer Vergangenheit als Prostituierte berichtete, war ihr Ruf als Bürgerschreck gefestigt. Sie garantierte für Direktheit und Brutalität, aber erst nach und nach wurde klar, wie gekonnt sie diese Energie in ihre Werke umsetzte.

Farbfotografie von Virginie Despentes vor grauem Hintergrund, mit einer Zigarette im Mund und schwarzem Tanktop mit „Motörhead“-Aufschrift
Im Zweifel für die Außenseiterperspektive: Virginie Despentes

Moderner Briefroman auf Instagram


In ihrem feministischen Essayband „King-Kong-Theorie“ erzählte sie davon, selbst vergewaltigt worden zu sein – und schloss daran eine differenzierte Analyse männlicher Identitätskonzepte an, die sich über Abwertung von Weiblichkeit definieren. Diese Essays schwingen in „Liebes Arschloch“ genauso mit wie Despentes Beschäftigung mit Drogen und Subkulturen, die sie in ihrer enorm erfolgreichen Trilogie rund um den ehemaligen Punkmusiker und – als Plattenhändler – Verlierer der Digitalisierung, Vernon Subutex, zelebrierte.

Der gefeierte Autor Oscar Jayack setzt auf Instagram einen beleidigenden Kommentar über die Schauspielerin Rebecca Latté ab, wobei die Formulierung, sie sei die „tragische Metapher einer Epoche, die den Bach runtergeht“ noch den nettesten Teil darstellt. Prompt antwortet ihm Latté mit der titelgebenden Anrede „Liebes Arschloch“. Was da anfangs allein schon wegen des Tons und der Länge der gegenseitigen Nachrichten etwas unplausibel scheint, entwickelt sich rasch zu einem modernen Briefroman, in dem sich Oscar und Rebecca immer mehr einander annähern.

Denn diese unwahrscheinlichen neuen besten Freunde teilen viel: Substanzenabhängigkeit – Alkohol, Kokain und Marihuana bei Oscar, Heroin und Crack bei Rebecca –, die gemeinsame Herkunft aus der unteren Mittelschicht und einen biografischen Bezugspunkt, war doch Rebecca in ihrer Jugend eine Freundin von Oscars Schwester, mit der er eine angespannte Beziehung führt.

Feminismus als japanisches Kampfschwert

Als die ehemalige Pressereferentin und inzwischen reichweitenstarke feministische Bloggerin Zoé Katana in der beginnenden „#MeToo“-Bewegung Oscar vorwirft, sie systematisch betrunken bedrängt zu haben und der Grund zu sein, warum sie ihren Job in einem Pariser Großverlag verloren hat, ist es Rebecca, die Oscar als um keine Direktheit verlegene Sparringpartnerin beibringt, dass er keineswegs das Unschuldslamm ist, als das er sich in Selbstmitleid zerfließend imaginiert. Dabei ist sie höchst reflektiert und witzig, moralisiert nicht und bleibt genauso auf Distanz zu ihm wie auch zu Zoés – deren Nachname nicht zufällig auch der Name eines japanischen Langschwerts ist – zugespitzten theoretischen Positionen.

Wie Despentes hier in einem von Blogeinträgen durchbrochenen Dialog komplexe Gesellschaftsanalyse vermittelt, zeigt ihr großes literarisches Können. Vom Soziologen Erving Goffmann stammt die These, dass wir alle Theater spielen – soll heißen, dass man in diversen gesellschaftlichen Verhältnissen zugedachte Rollen annimmt und oft besser mitspielt, als es einem bewusst ist. Rebecca ist eine Spezialistin im Benennen der Masken des Patriarchats: Dass Männer an der Verkörperung der Rolle von Männlichkeit zugrunde gehen können – wie eben Oscar – und einzelne Frauen wie sie selbst wunderbar davon profitieren können, die Komplizinnen einer Männlichkeitsvorstellung zu sein, die Frauen systematisch abwertet, weiß sie in einem Ton auf den Punkt zu bringen, der nach Punkrock klingt und nicht nach philosophischem Proseminar.

Despentes ist es gelungen, aus einem heiß umkämpften gesellschaftlichen Thema einen Roman zu machen, der sich nicht in einer These erschöpft – sondern die Frage ausbuchstabiert, wie man sich trotz der komplizierten Überlagerung von Schuld, Opfer, persönlichem Leidensdruck und auf sozialen Netzwerken sich verselbstständigender öffentlicher Meinung einander annähern und miteinander auskommen kann. Dass sich Oscar und Rebecca entwickeln dürfen – Entzug und emotionale Aufarbeitung der eigenen Unzulänglichkeiten inklusive – und die Pandemie- und Lockdown-Zeiten der vergangenen Jahre produktiv befragt werden, ist „Liebes Arschloch“ hoch anzurechnen.

Florian Baranyi (Gestaltung und Text), ORF Topos, Laura Russo (Schnitt), für ORF Topos

Sendungshinweis: ZIB 13.00, 8.02.2023

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Emil und die Drogenhändler

Emil und die Drogenhändler teilenJugendKritikFilm

05. März 2023, 06:00 Uhr

Die Verfilmung des Bestsellers „Sonne und Beton“ führt zurück ins Jahr 2003 nach Berlin-Gropiusstadt – zu einer ausgelassenen Jugend voll Gewalt, Drogen und guter Laune. Regisseur David Wnendt macht aus dem Ghettokrimi einen Film, dem die Nostalgie die Zähne zieht.Magdalena Miedl

Früher war fix nicht alles besser. 2003 hatten die Handys noch keine ordentliche Kamera, die Schulen waren genauso desolat wie heute. Die Gewaltbereitschaft junger Burschen in den Vorstädten und in jenen Berliner Bezirken, die nicht von Gentrifizierung verteuert werden, war damals schon Dauerthema in den Medien. 2003 war Felix Lobrecht, heute ist er bekannt als Autor, Podcaster und Stand-up-Comedian, noch Teenager.

Geboren wurde er 1990, aufgewachsen ist er in einem Wohnblock in Gropiusstadt in Berlin Neukölln, jenem Stadtteil, der seit den späten 1970er Jahren berüchtigt ist für seine verwahrlosten Wohnsiedlungen und die drogensüchtigen Jugendlichen. Berühmteste Tochter der Gegend ist Christiane F., ihre Kindheitserinnerungen sind „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“.

Echt wahr oder zumindest fast

Lobrecht kann es inzwischen mit ihr an Berühmtheit fast aufnehmen, nicht nur für seine Comedy-Programme mit derber Berliner Schnauze, sondern auch für seinen halb autobiografischen Debütroman, der nun verfilmt wurde: „Sonne und Beton“ handelt von einer Zeit vor 20 Jahren, im Film historisch verortet durch die klobigen Wertkartenhandys, durch derben Hip-Hop wie Sidos „Arschficksong“ und durch die fehlende Dauerpräsenz von Onlineplattformen. Damals gingen die jungen Leute noch an die frische Luft – aber besonders gut hat ihnen das trotzdem nicht getan.

Gruppe von Teenagern und jungen Erwachsenen, die angriffslustig über eine Wiese gehen
Riecht nach Ärger und nach Gras

Regisseur Wnendt erzählt im Interview mit Topos, er habe sich in dem Roman wiedergefunden, „weil er so gut darstellt, wie das Leben als Junge mit 14 ist“ (siehe Video). Lobrecht sagt über sein Buch, es beruhe auf seinem Leben, viele Dinge seien aber auch Freunden passiert.

So wirklich für bare Münze ist das Ganze jedenfalls nicht zu nehmen, darauf deutet schon der Eingangssatz hin. „Es war alles genau so“, damit beginnt Wnendts Film, „vielleicht aber auch nicht.“ Protagonist ist der 14-jährige Lukas, mittlerer Sohn eines alleinerziehenden und arbeitslosen Vaters. Die Mutter ist an Krebs gestorben, der ältere Bruder Kleinkrimineller, von Lukas grenzenlos bewundert.

Fast wichtiger als die Familie sind Lukas’ Freunde Julius, Gino und Sanchez. Lukas ist eigentlich ein heller Kopf, einziger Deutscher in der Klasse und deswegen unangenehmerweise auch Lehrerliebling. Wegen seines eigenen Zorns, der Schnapsideen seiner Freunde und der desolaten Schulsituation landet er aber immer wieder in sehr finsteren Situationen – nicht selten unschuldig.

Gibst du 500 Euro!

Schülerausweis vergessen? Ohne Ausweiskontrolle gibt’s keinen Zugang, also führt am Schuleschwänzen kein Weg vorbei – und so beginnt ein Tag, der in den Abgrund führt. Denn klar, Kiffen klingt zunächst nach einem lauschigen Gedanken für einen Sommertag, und wie Julius weiß, sind dann die Mädels auch gleich viel interessierter, Julius kennt sich da aus. Nur, dass „die Mädels“, die sehr oft erwähnt werden, im ganzen Film sehr wenig vorkommen, höchstens als Sehnsuchtsfiguren.

Julius beginnt jedenfalls im Park einen Streit mit der „Araber-Dealergang“, Lukas kassiert ein paar Volltreffer ins Gesicht, pardon, „Bombe in die Fresse“. Die rivalisierende türkische Drogendealergang greift ein, und am Ende verlangt ein Schlägertyp von Lukas 500 Euro für irgendwelche fiktiven Verluste bei irgendwelchen angeblichen Geschäften. Doch wie an Geld kommen? Gino hat da eine sensationelle Idee: Die brandneuen Schulcomputer, erst gestern geliefert, müssten doch auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert sein.

Vier 14-jährige Buben im Supermarkt, schauen erwartungsvoll kritisch nach rechts aus dem Bild
Super Typen: Lukas, Gino, Julius und Sanchez haben ihr Leben im Griff

Die Clownerie des Computerdiebstahls, die Wortgefechte und Blödeleien, der atemlose Übermut sind die sonnige Seite des Films. Im Leben der jungen Burschen gibt’s aber auch jede Menge metaphorischen Beton, Julius’ gewalttätigen, drogensüchtigen Bruder und dessen Freunde etwa, Ginos Vater, der Frau und Sohn im Suff halb bewusstlos prügelt.

Der Klügere gibt nach? Der Klügere tritt nach!

Rat von Lukas’ älterem Bruder Marco

Immer wieder sind es die Erwachsenen, die die Buben vor unlösbare Situationen stellen, und ein großer Bruder wie Marco (gespielt von Rapper Luvre47) und seine Ratschläge fürs Leben sind nicht wirklich eine Hilfe.

Emil und die Drogendealer

Ein wenig erinnert „Sonne und Beton“ da an Erich-Kästner-Erzählungen, auch „Emil und die Detektive“ erlebten keine behütete Kindheit, sondern wurden auf den Straßen Berlins allein gelassen und mussten sich selbst helfen. Die Probleme, vor denen vor allem Gino in seiner Familie steht, sind zwar ungleich größer als ein geklauter Geldschein, die Ernsthaftigkeit, mit der die Freunde einander zu helfen versuchen, ist aber dieselbe wie damals.

Vielleicht ist die Kästner-Assoziation auch Wnendts Regie geschuldet, die dem Film trotz aller Härte einen allzu nostalgisch goldenen Filter überstülpt. Dabei ist Wnendt sonst einer, der mit harten, kontroversiellen Stoffen umzugehen versteht: Sein Langfilmdebüt war das Neonazi-Drama „Kriegerin“ (2011) über eine junge Frau in einer ostdeutschen Kleinstadt, die sich durch Antisemitismus und Rassismus definiert, ein Film über die brutale Zeit nach der Wende, die von Zeitzeugen mit gutem Grund als „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet wird.

Vier 14-jährige Buben nachts auf der Straße unterwegs, der Asphalt ist nass
Auf der Suche nach Ärger: Nachts ist Berlin für Teenager besonders schön

Wnendts Nachfolgeprojekte waren nicht weniger spannend, wurden aber zunehmend bürgerlich. Er verfilmte Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ und Timur Vermes’ Hitler-Satire „Er ist wieder da“. Danach gab es Fernsehprojekte, eine Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ musste er an Fatih Akin abtreten, 2019 verfilmte er Rebecca Dinerstein Knights Roman „The Sunlight Night“ über eine junge Künstlerin auf Atelieraufenthalt in Island.

„Sonne und Beton“ ist im Vergleich dazu wieder Punk, zumindest vom Was-kostet-die-Welt-Auftreten seiner vier chaotischen Helden her. Letztlich ist Wnendts Adaption aber auch eine Illustration von Feuilletondebatten über eskalierende Schulklassen und abgehängte Kids, die Bildung nicht als Chance, sondern als sinnloses Beschäftigungsangebot verständnisloser Erwachsener verstehen. Der Film ist deswegen nicht weniger pointiert, etwas mehr Wagnis und Wildheit hätte Lobrechts Vorlage aber vertragen.

Magdalena Miedl (Text, Gestaltung), ORF Topos, Manfred Kotzurek (Kamera), Sarah Goldschmidt (Schnitt), beide für ORF Topos

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v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

QELLE : ORF.AT TOPOS

Die Tiefsee sinnt auf Rache

Die Tiefsee sinnt auf Rache teilenKritikFilmNatur

06. März 2023, 12:09 Uhr

Aggrokrabben, Flutwellen und mutierte Meereswürmer: Vor fast 20 Jahren lehrte Bestsellerautor Frank Schätzing mit seinem Science-Fiction-Roman „Der Schwarm“ sein Publikum Respekt vor den Ozeanen. Der gleichnamige TV-Achtteiler mit österreichischer Beteiligung greift vieles davon auf. Der Moment dafür könnte nicht besser passen.Magdalena Miedl

„Wir haben keine Zeit, vorsichtig zu handeln!“, schreit die Meeresbiologin und Doktorandin Charlie (gespielt von Leonie Benesch) ihre Professorin (Barbara Sukowa) an. Dabei hat diese nur Bedenken angemeldet, die These einer die Menschheit gefährdenden Bedrohung sei doch zu steil, man möge bitte mit Bedacht agieren. Nicht zufällig klingt Charlie in diesem Moment wie eine Aktivistin der „Letzten Generation“, wie überhaupt die ganze „Schwarm“-Saga eine große Umweltzerstörungs- und Klimakatastrophen-Parabel ist.

Vieles in der Serie wirkt wie die Bebilderung aktueller Nachrichten, seien es Überschwemmungen, gestrandete Wale oder Scharen von Quallen an der Adria. Dabei ist der Stoff ganz und gar nicht neu. 2004 legte Schätzing, Bestsellerautor mit Wurzeln in der Werbebranche, seinen bisher größten Erfolg vor: In „Der Schwarm“ schildert er auf fast tausend Seiten, wie Forscherinnen und Forscher auf der ganzen Welt seltsames Verhalten bei Walen, Eiswürmern, Krabben und anderen Spezies aus dem Meer beobachten.

Ein bleicher Wurm auf einer Objektplatte, mit einer Pinzette festgehalten, offenbar im Labor
Wehr dich doch! Aggroeiswurm im Rampenlicht

Nach und nach wird deutlich, dass das Verhalten der Tiere in Zusammenhang steht, und tatsächlich eine unbekannte Schwarmintelligenz aus den Ozeanen einen Krieg gegen die Menschheit zu entfesseln beginnt.

Frutti di Mare auf dem Kriegspfad

Ob der Krieg eine Aggression oder vielmehr eine dringend notwendige Verteidigung ist, ist eine der ethischen Fragen, die das Buch aufwirft. Die Protagonistinnen und Protagonisten sind nicht viel mehr als Stellvertreter für bestimmte Positionen, die auch etwas emotionale Fallhöhe mitbringen, um zu verdeutlichen, dass vor allem Regungen wie Liebe und Solidarität es wert sind, dass diese Menschheit vielleicht doch noch ein paar Generationen weiterleben darf.

Sendungshinweis
Die ersten beiden Folgen der mit dem ORF koproduzierten achtteiligen Serie „Der Schwarm“ sind am Montag ab 20.15 Uhr in ORF1 zu sehen.
Die Doku „Die Rache der Ozeane“ läuft im Anschluss um 21.55 Uhr in ORF1 und erklärt die wissenschaftlichen Hintergründe zur Serie.

Fast 20 Jahre nach dem Erscheinen des Romans sind einige dieser Fragen längst keine Science Fiction mehr. Ein kurzer Rückblick in die Nachrichten der vergangenen Monate und Jahre macht das deutlich, und dass Schätzings jüngstes Buch „Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise“ (2021) kein Roman mehr, sondern ein Sachbuch ist, wirkt wie eine logische Fortsetzung.

Längst ist also der richtige Zeitpunkt für eine massentaugliche Adaption des Stoffs im Serienformat. „Game of Thrones“-Showrunner Frank Doelger hat das Projekt unter seine Fittiche genommen, die Geldgeber kommen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Österreich, Schweden und der Schweiz, in Zusammenarbeit mit Schätzing teilte Doelger den Roman auf acht Teile auf.

Plantschen im Tank

Regie führten bei den ersten beiden Folgen der Brite Luke Watson („Britannia“), Episode drei bis sechs inszenierte die österreichische Regisseurin Barbara Eder („CopStories“), die beiden letzten Folgen verantwortete Philip Stölzl („Schachnovelle“). Es ist nicht der erste Versuch, den Stoff zu verfilmen, schon 2006 sprach Schätzing in Interviews über Anfragen aus Hollywood, Uma Thurman wurde als Produzentin und eine der Hauptdarstellerinnen genannt, das Projekt scheiterte jedoch.

Nun ist es eine Serie im Event-TV-Format geworden, mit einem 40-Millionen-Euro-Budget. Doch auch das war nicht zwingend, so Eder im Gespräch mit Topos (siehe Video): „Du könntest aus dem Schwarm verschiedenste Versionen machen, du könntest sogar einem Experimental- oder Kunstfilm machen.“ Geworden ist es das Gegenteil: viele ruhige Bilder monumentaler Meer- und Küstenlandschaften, dann wieder Unterwasserszenen, im Studiotank gefilmt.

Zwei Männer betrachten besorgt einen Computerbildschirm
Wenig Action: Männer, die auf Bildschirme starren (Alexander Karim, Oliver Masucci)

Vor allem die Folgen von Watson nehmen deutliche Horroranleihen, von „Der weiße Hai“ bei der Inszenierung aggressiver Orcas, die ihrem altmodischen Namen „Killerwale“ alle Ehre machen, bis zu „Alien“ angesichts unappetitlicher Schalentiere. Diese trashigen Momente sind die, in denen die Serie den größten Spaß macht. Wo es hakt, sind die Figuren, deren Entwicklung flach bleibt.

Walforscher und Bildschirmarbeiter

Da ist etwa die französische Molekularbiologin Cécile Roche (Cécile de France), deren Schicksal bei der Entdeckung eines tödlichen Bakteriums im Trinkwasser durch ihre halbwüchsigen Kinder etwas an Fallhöhe gewinnt. Da ist auch der norwegische Gutachter Sigur Johanson (Alexander Karim), der in seine Kollegin Tina Lund (Krista Kosonen) verliebt ist, und mit ihr gemeinsam die Eiswurminvasion entdeckt.

Dann ist da noch die junge deutsche Doktorandin Charlie, die auf einer der Shetland-Inseln einsam auf einer Forschungsstation sitzt und sich mit einem hübschen Fischer anfreundet. Spannendste Figur ist der kanadische Walforscher Leon Anawak (Joshua Odjick), gespalten zwischen seiner First-Nation-Herkunft und der Aufgabe, das seltsam aggressive Verhalten der Wale analytisch zu erklären.

Panorama über Venedig, der Canal Grande voller Quallen
Idyll mit Untiefen: Venedigs Schönheit ist in Gefahr

Das Personal der Serie ist umfangreich und prominent besetzt, aus Österreich ist etwa Franziska Weisz als Ärztin an Bord, aus Deutschland Oliver Masucci und Klaas Heufer-Umlauf, doch die meisten von ihnen bekommen nicht viel zu tun. Menschen starren mit gerunzelter Stirn auf Bildschirme, auf denen unterschiedliche graugrüne Formationen zu sehen sind, ein Lichtschein, Graphen von Ton- und Lichtfrequenzen, doch die Bedeutung davon erschließt sich erst im nachfolgenden Dialog.

Ein Mann unter Wasser, in einem Strudel von Fischen

Die Vorteile von Schwarmintelligenz
In „Der Schwarm“ handelt es sich um Fiktion – aber zugrunde liegt die Idee der Schwarmintelligenz. Warum bestimmte Lebewesen im Schwarm besser überleben können, erklärt ein Experte in https://science.orf.at/stories/3217977/.

Ungerechter „Pilcher“-Vorwurf

Für das, was unter Wasser geschieht, finden die Serienmacher oft keine Bilder, und auch für die zwischenmenschlichen Fragen nur gelegentlich. Schätzing selbst war ebenfalls nicht begeistert, wie er im Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte. „Es pilchert mehr, als es schwärmt“ ist die plakative Kurzanalyse, mit der er allerorts zitiert wird. Das wiederum ist ungerecht, schließlich ist schon Schätzings Vorlage auch nicht ganz frei von gefühligen Schilderungen und oberflächlichen Beziehungskisten.

Die Verfilmung wird dem Buch also durchaus gerecht, auch wenn einiges neu erfunden wurde. Misslungen ist „Der Schwarm“ durchaus nicht, wenn auch nicht so aus einem Guss wie von vergleichbaren Miniserien gewohnt. Je nachdem, wie es läuft, gibt es auch die Option einer Fortsetzung, wie Eder im Topos-Interview sagt: „Am Ende ist sowas wie ein Türchen geöffnet, das es möglich macht, dass es weitergeht. Aber mehr darf ich ja nicht verraten.“

Magdalena Miedl (Text und Gestaltung), ORF Topos, Laura Russo (Schnitt), für ORF Topos

Sendungshinweis: ZIB1, 5.3.2023

Links:

v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

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Kampf um werbefreie Städte

Kampf um werbefreie Städte teilenGesellschaftUmweltKonsum&Produktion

11. März 2023, 06:00 Uhr

Seit Jahren setzen sich Initiativen in verschiedenen Städten für ein Verbot von Werbung im öffentlichen Raum ein. Damit soll ein Schritt gegen Kommerzialisierung und für mehr Klimaschutz gesetzt werden. In Genf wurde kürzlich eine entsprechende Initiative mit einem knappen Nein abgelehnt. Was Werbung mit Städten macht, erklärt die Stadtforscherin Sabine Knierbein am Beispiel von Wien (siehe Video).Lena Hager

Werbeplakate würden den Konsum fördern und können zu Verschuldung beitragen, so die Argumentation der Genfer Initiative „Zéro Pub“ (dt.: „Keine Werbung“), die von verschiedenen Gruppierungen, Vereinen und Parteien unterstützt wird. „Werbung im öffentlichen Raum durch Plakatwände zuzulassen bedeutet, dem Staat zu erlauben, unsere Aufmerksamkeit gegen Geld zu vermieten, obwohl unsere Aufmerksamkeit eines unserer privatesten, wertvollsten und begehrtesten Güter in der heutigen Zeit ist“, so die Initiative gegenüber ORF Topos.

Im März 2023 kam es zu einer Abstimmung durch die Genfer Stadtbevölkerung, die ein knappes Nein hervorbrachte. 51,9 Prozent der Stimmen sprach sich gegen ein Verbot aus, die Wahlbeteiligung betrug 34,5 Prozent. Laut „Zéro Pub“ fehlten 1.700 Stimmen für eine Annahme des Verbots. „Fast die Hälfte der Wählerschaft will das nicht. Dies wird bei der Umsetzung der Verordnung berücksichtigt werden müssen.“

  • Berlin WerbefreiHaus mit WerbefrontFassadenwerbung an Baugerüst
  • Berlin WerbefreiWerbetafel verbirgt Kirche
  • Berlin WerbefreiParship-Werbetafel vor einer Kirche
  • Berlin WerbefreiBMW-Werbetafel vor Gebäuden
  • Berlin WerbefreiWerbetafel verbirgt Gebäude

Stadt neu denken: Sozial und ökologisch

Ihren Ausgangspunkt nahm „Zéro Pub“ im Jahr 2017, als der Vertrag der Stadt Genf mit einer Außenwerbefirma auslief und ein neuer noch nicht in Kraft war, weshalb die Plakatflächen für einige Wochen weiß blieben. Die Genferinnen und Genfer nutzten die Flächen für kreative Zeichnungen und Kunstwerke, der Startschuss für die Idee einer werbefreien Stadt war gefallen. „Die Befreiung des öffentlichen Raums von kommerziellem Druck ist ein wichtiger Fortschritt für die Bewegung hin zu einem sozialen und ökologischen Übergang. Es ist auch ein wichtiger Schritt zur effektiven Umsetzung unserer kulturellen Rechte.“

Wer hat das Recht, den öffentlichen Raum wie zu nutzen, und wer entscheidet darüber? Das sei generell eine große Debatte, nicht nur in Bezug auf das Thema Werbung, erklärt Kerstin Krellenberg, Professorin für Urban Studies an der Universität Wien. Natürlich könne durch Einzelinitiativen etwas in Bewegung geraten, aber letztendlich brauche es das grundsätzliche Umdenken im Bereich der Stadtentwicklung, so Krellenberg. „Man muss die Stadt neu denken, und da gehört auch viel Mut dazu.“View this post on Instagram

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Werbung nur noch für den guten Zweck

Dabei seien Partizipationsmöglichkeiten enorm wichtig. Einzelpersonen und Gruppen sollen sich ernst genommen fühlen und mitgestalten können. Solche Prozesse seien oft aufwendig, es brauche ein permanentes Aushandeln, erläutert Krellenberg. Mit Multifunktionalität könne man in einigen Fällen unterschiedliche Interessen zusammenbringen, wie etwa in einer Parkanlage, in der es unterschiedliche Bereiche – eine Ruhezone, einen Spielplatz und eine Hundewiese – geben kann.

Das Verbot in Genf hätte sich auf kommerzielle Werbeplakate und Werbedisplays im öffentlichen Raum bezogen. Werbung auf privaten Grundstücken wäre davon ebenfalls betroffen gewesen, wenn diese von öffentlichem Grund aus sichtbar ist. Ausgenommen wäre Werbung für Kultur, Sport- und Bildungsangebote sowie für karitative Zwecke. Durch die freiwerdenden Flächen sollte einerseits der Fußgängerverkehr– insbesondere für Menschen mit Behinderung – erleichtert und übersichtlicher werden. Andererseits hätte man die Flächen zur Begrünung genutzt, so die Pläne von „Zéro Pub“.

Grenoble als europäischer Vorreiter

Mit ihrem Anliegen ist die Genfer Initiative nicht allein. In Bristol, Hamburg, Zürich, Basel und Canberra gibt es laut „Zéro Pub“ ähnliche Initiativen, die insbesondere auch Leuchttafeln betreffen. In Grenoble gilt bereits seit 2015 ein Verbot von kommerzieller Außenwerbung im öffentlichen Bereich – damit ist die französische Stadt die erste in Europa, die solch ein Verbot beschloss. Über 300 Werbeanlagen wurden entfernt und neu gewonnener Platz zur Begrünung genutzt.

Auch die Initiative „Berlin werbefrei“ streicht hervor, dass die Reduktion von Außenwerbung eine kostengünstige und nachhaltige Investition in den Umwelt- und Klimaschutz darstelle und Städte lebenswerter mache. Denn Werbeanlagen seien für diverse Probleme verantwortlich. Sie haben einen hohen Energiebedarf, lenken im Straßenverkehr ab und sorgen für Lichtverschmutzung. Es sei wichtig, dass die Frage nach Außenwerbung neu verhandelt wird, so Initiator Fadi El-Ghazi gegenüber ORF Topos.

Die Frage nach dem Geld

„Dass der Staat unsere Aufmerksamkeit für einen Betrag vermietet, der zudem noch lächerlich gering ist, macht die Sache nur noch schlimmer“, meint „Zéro Pub“ und spricht damit einen zentralen Punkt an, den die Kritikerinnen und Kritiker solch eines Verbots – etwa die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände der Romandie und Genf – hervorstreichen. Denn die Kommunen verdienen mit der Vermietung von Werbeflächen Geld. Neben den finanziellen Einbußen für die Stadt sehen die Gegenstimmen der Genfer Initiative ein Verbot als Angriff auf die Handelsfreiheit und sprechen von Zensur.

Auch in Grenoble waren im Zuge der Umsetzung des Verbots im Jahr 2015 die finanziellen Verluste ein Thema. Laut Bürgermeister Eric Piolle betrugen diese jedoch nur 0,1 bis 0,2 % des Haushaltsbudgets. Die größten Gewinne würden die Out-of-Home-Medienunternehmen machen, erklärt Sabine Knierbein, Professorin für Stadtkultur und öffentlichen Raum. Seit den 1990er Jahren habe sich hier ein globales Modell entwickelt, das Stadtmobiliar (etwa öffentliche WCs oder Wartehäuschen) mit Außenwerbung verbindet (siehe Video).

UNO-Sonderberichterstatterin besorgt

Im Jahr 2014 veröffentlichte die UNO-Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte, Farida Shaheed, einen Report, der sich mit der Auswirkung von Werbung und Marketing beschäftigt. Darin äußerte sie Bedenken hinsichtlich der zunehmenden Vermischung kommerzieller Werbung mit anderen Inhalten – vor allem Kultur und Bildung betreffend – und zu „der unverhältnismäßigen Präsenz kommerzieller Werbung im öffentlichen Raum, der hohen Anzahl täglicher Reklamebotschaften, ferner ihre Verbreitung mittels technischer Anwendungen in offener oder versteckter Form und den damit verbundenen Möglichkeiten, individuelle Entscheidungen zu manipulieren.“

Staaten stünden gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern in der Verantwortung, sie vor einem Übermaß an kommerzieller Werbung zu schützen und nichtkommerzielle Meinungsäußerung zu fördern, so der Bericht, der als Grundlage für den Gesetzesentwurf von „Berlin werbefrei“ dient. In einer Stellungnahme gegenüber ORF Topos skizziert Initiator Fadi El-Ghazi die weitere Vorgehensweise: Äußert der Senat keine Bedenken zum Gesetzesentwurf, würde dieser im Abgeordnetenhaus von Berlin beraten werden. Wird der Entwurf dort nicht angenommen, will die Initiative ein Volksbegehren und in weiterer Folge einen Volksentscheid durchführen. Inwieweit der knappe Ausgang in Genf Signalwirkung auf andere Städte wie Berlin hat, bleibt abzuwarten.

Lena Hager (Text und Gestaltung), ORF Topos, Marco Tondolo (Kamera), für ORF Topos, Kafeela Adegbite (Schnitt), für ORF Topos

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Zéro Pub
Berlin werbefrei
UNO-Report über Werbung und Marketingv1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

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Junge Migranten gegen Gewalt an Frauen

Junge Migranten gegen Gewalt an Frauen teilenGesellschaftGenderJugend

07. März 2023, 12:09 Uhr

In Österreich ist jede dritte Frau ab dem 15. Lebensjahr mindestens einmal im Leben von Gewalt betroffen. Femizide und Morde sind die Spitze des Eisbergs. In der Onlinekampagne „#KeineEinzigeSchwesterMehr“ sprechen migrantische Jugendliche aus Wien über Gewalt gegen Frauen. ORF Topos hat mit ihnen über toxische Geschlechterrollen (im Video) gesprochen.Leonie Markovics, Nina Grünauer

Wegen der hohen Gewaltrate und der zahlreichen Femizide in Österreich wollen migrantische Jugendliche mit dem Onlineprojekt „Bro&Kontra: #KeineEinzigeSchwesterMehr“ auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen. Es geht um toxische Männlichkeit – und darum, wie Junge veraltete patriarchale Denkmuster überwinden können. „Ich glaube, der Hauptgrund sind eifersüchtige Männer“, sagt der 17-jährige Orhan zu ORF Topos. In der Kampagne verarbeiten die Jugendlichen Erfahrungen mit Gewalt gegen Frauen, die sie zum Teil selbst erlebt haben. Zum Schutz ihrer Identität haben sie sich maskiert und verwenden Pseudonyme.

Warum manche Männer überhaupt gewalttätig werden, habe auch damit zu tun, „wie man das gelernt hat, ob man es im eigenen Bekanntenkreis so gesehen hat“, so der 17-jährige Marko. Ziel der Kampagne ist, Jugendlichen Alternativen zu Gewalt aufzuzeigen. Das Projekt wird vom Juvivo-Jugendtreff im 21. Bezirk gemeinsam mit der Beratungsstelle Extremismus (boja) begleitet.

Aufnahme von zwei maskierten Jugendlichen
Ziel der Kampagne ist, Alternativen zu toxischer Männlichkeit aufzuzeigen

„Viele männliche Jugendliche aus migrantischen Milieus haben stark traditionell geprägte Männlichkeitsvorstellungen“, sagt Sertan Batur zu ORF Topos. Batur leitet den Juvivo-Jugendtreff, ist klinischer Psychologe und in der Männerberatung Wien tätig. Er kennt die Jugendlichen hinter der Kampagne, viele von ihnen sind Arbeiterkinder und in Wien aufgewachsen. Traditionelle Rollenbilder und patriarchale Strukturen seien häufig noch in Arbeiterfamilien verankert, „in den migrantischen Familien, aber genauso in den Familien ohne Migrationshintergrund“, so der Psychologe.

Das präge die Jugendlichen. Es existierten klischeehafte Bilder von Männlichkeit wie jenes, „dass Männer immer stark sein sollen“, woran die Jugendlichen in der Realität häufig scheitern. Oft wüssten die jungen Männer nicht, „wie sie mit Aggressionen und Wut umgehen sollen, wenn sie verletzt werden“, so Batur.

Medienberichte beeinflussen Selbstbild

Aggression und Betroffenheit beruhe dabei auch auf der medialen Diskussion über die migrantischen jungen Männer selbst, erklärt Paul Scheibelhofer, der unter anderem zu „kritischer Männlichkeitsforschung“ als auch zu „Migration und Rassismus“ an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck forscht. Scheibelhofer erklärt: „Studien zeigen wiederholt, dass migrantische und geflüchtete Männer die negativen Bilder kennen, die über sie existieren. Sie sehen diese Bilder in den sozialen Medien und auf Wahlplakaten, sie begegnen ihnen in Schule, Beruf und Alltag.“

Stereotype Bilder machen die Burschen wütend und betroffen, da sie damit der Verallgemeinerung zum Opfer fallen. „Denn die vorherrschenden medial vermittelten Bilder stellen migrantische Männer als rückständig und sexuell gefährlich dar. Damit begünstigen sie eine feindliche Stimmung gegenüber diesen Männern und verschärfen die ohnehin oft prekäre Lebenssituation, in der sich viele befinden“, so Scheibelhofer. Neben dem Druck aus der eigenen Community wirken damit auch Medienberichte negativ auf das Selbstbild der jungen Männer ein.

„Viele Frauen erkennen Grenzverletzungen nicht einmal“

Sich über veraltete und patriarchale Denkmuster und Erwartungen aus der eigenen Community hinwegzusetzen, habe weniger mit Mut zu tun, „als mit persönlicher Notwendigkeit“, sagt die 26-jährige Journalistin Nada El-Azar-Chekh. Sie spricht öffentlich über die Gewalt, die sie in ihrer eigenen Familie und Community erlebt hat. Allgemein würden viele junge Mädchen und Frauen Grenzverletzungen nicht erkennen, „da sie in ihren Familien niemals dazu animiert wurden, dass sie eine schützenswerte Privatsphäre hätten“, sagt El-Azar-Chekh zu ORF Topos. Der erste Schritt sei daher immer: „Eigene Grenzen erkennen, dann festlegen und dann verteidigen.“ Gemeinsam mit dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) hat die Journalistin einen Leitfaden für junge Frauen verfasst, um auf Grauzonen von Gewalt hinzuweisen.

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Viele Gesichter der Gewalt

Kontrolle und Überwachung durch den Partner oder die Familie seien Gewaltformen, von denen Mädchen und Frauen häufig betroffen sind, weiß Tamar Citak, Beraterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt aus langjähriger Erfahrung. Es gibt unterschiedliche Formen von Gewalt, körperliche, psychische, sexuelle, ökonomische und soziale Gewalt – die Grenzen sind oft fließend.

Gewalt an Frauen beginnt bei Werten, Einstellungen, Überzeugungen und Vorurteilen – an der Spitze stehen Suizide und vor allem Morde. Je mehr sich die Pyramide zuspitzt, desto weniger Menschen sind zwar direkt betroffen, doch die Schwere der Gewalt nimmt weiter zu. Strukturelle Gewalt (als Folge von Ungleichheiten in der Gesellschaft) bildet also unter anderem den Nährboden für personelle Gewalt, die von einer einzelnen Person ausgeübt wird. Das Prinzip von Macht und Kontrolle bleibt aber in allen Stufen das gleiche.

Die Stufen der Gewaltentwicklung, wie sie in der Gewaltpyramide veranschaulicht sind, bieten zwar eine Orientierung darüber, wie Gewalt entstehen kann, „aber nicht alle Frauen erleben dasselbe“, erklärt Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser, im Gespräch mit ORF.at. Gewalt verläuft nicht immer linear oder stufenweise.

Plakat mit der Aufschrift „Nie wieder Femizid!“

Die vielen Gesicher der gelernten Gewalt
Die Formen von Gewalt, die Frauen durch Beziehungspartner erleben, sind vielfältig. Aber: Gewalt wird gelernt, sind sich Opferschutzorganisationen und Männerberatungsstellen einig. Was es daher braucht und sofort geben kann, sind Vorbilder, sagen Expertinnen und Experten zu ORF.at.

Viele Barrieren für Migrantinnen

Gewalt an Frauen hänge nicht mit der Herkunft oder mit einer Staatszugehörigkeit zusammen, und Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung seien generell nicht häufiger von Gewalt betroffen als inländische Frauen, heißt es in einem Bericht des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF).

Häufig würden diese Frauen aber mehrfach benachteiligt, sagen Expertinnen und Experten: Geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bildungswesen können zu finanziellen Abhängigkeiten führen, „die Frauen mitunter zwingen, in Gewaltverhältnissen zu bleiben“, sagt Najwa Duzdar, Leiterin der Beratungsstelle Orient Express zu ORF Topos.

Besonders schwierig wird die Lage, wenn der Aufenthaltstitel der Mädchen und Frauen an den Ehemann geknüpft ist. Scham und Angst vor Stigmatisierung hält Frauen allgemein oft davon ab, über ihre Erfahrungen zu sprechen und Hilfe zu suchen, bei Frauen mit Migrationsgeschichte komme noch die Sorge dazu, „rassistische Klischees und Vorurteile zu bedienen“, so Duzdar. Hinzu kommen Sprachbarrieren, ein fehlendes soziales Netzwerk oder fehlende Anonymität, insbesondere bei Mädchen und Frauen, die noch nicht lange in Österreich sind, fügt Citak hinzu.

Hilfe für Frauen

Gewalt, um „Macht und Kontrolle auszuüben“

In sehr traditionellen Familien, unabhängig der ethnischen Herkunft, würden Männer einen gefühlten Autoritätsverlust oft darin erleben, „dass sich Machtverhältnisse verschieben“, sagt die Soziologin Karin Steiner: „Beispielsweise, wenn Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen, damit finanziell unabhängiger werden und auch mehr externe Kontakte nutzen können, um sich aus einer ungesunden Beziehung zu emanzipieren“, so Steiner. Gewalt gegen Frauen habe immer die Funktion, „Macht und Kontrolle auszuüben beziehungsweise die Autorität des Mannes wiederherzustellen“, sagt die Soziologin.

Allein in dem bisher kurzen Jahr 2023 wurde bis zum 27. Februar in den Medien von 18 Fällen schwerer Gewalt sowie sechs Morden an Frauen berichtet. Diese Zahlen stammen aus einer Aufstellung des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser, der regelmäßig Medienberichte über schwere Gewaltverbrechen und Femizide zusammenträgt.

Die Dunkelziffer liegt weit höher. Im Vorjahr (2022) wurden 14.643 Betretungs- und Annäherungsverbote von der Polizei verhängt. 90 Prozent der Gefährder sind dabei männlich, berichtet die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. Schätzungen der Polizei zufolge werden rund 90 Prozent aller Gewalttaten in der Familie und im sozialen Nahraum ausgeübt.

Beratung für Männer

Mehr Prävention und Beratungsangebote

In Schulen oder Jugendzentren sei es wichtig, Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung über ihre Rechte und Hilfsangebote zu informieren, sagt Citak. Diese Mädchen und Frauen wüssten, was auf sie zukomme, wenn sie sich gegen den gewalttätigen Partner oder die gewalttätige Familie wehren, aber „sie müssen wissen, wenn sie den Schritt gehen, wohin können sie sich wenden, was sind ihre Rechte“, so Citak weiter.

Um Mädchen und junge Frauen in solchen Situationen aufzufangen, aber auch präventiv zu unterstützen und zu stärken, wurde das Zentrum Bakhti im 15. Bezirk gegründet. Das Zentrum, das im Februar eröffnet wurde, richtet sich an Teenager und junge Frauen zwischen 14 und 21 Jahren, die bereits direkt oder indirekt Gewalterfahrungen erleben mussten. Auch für Burschen gibt es Angebote.

„Um die Situation in puncto Gewalt an Frauen zu verändern, müssen wir sowohl die negativen Bilder als auch die soziale Ungleichheit angehen, von der migrantische Männer wie Frauen in Österreich betroffen sind“, so Scheibelhofer. Zudem brauche es Zusammenhalt und Solidarität innerhalb der Gesellschaft, so der Experte.

Im Rahmen der Burschenarbeit und Präventionsarbeit im Juvivo.21-Jugendtreff werden toxische Geschlechterrollen und Männlichkeitsbilder reflektiert und diskutiert. Es geht um Fragen wie „Wie sieht deine ideale Beziehung aus oder welche Ziele willst du in deinem Leben erreichen?“, um zu schauen, ob die Verhaltensweisen mit den eigenen Wünschen „zusammenpassen oder nicht“, erklärt Batur. Es gehe darum, den Jugendlichen gleichberechtigte Geschlechterbilder zu vermitteln, sie in ihrem Selbstwert zu stärken „und andere Lösungen zu finden als Gewalt“, so der Psychologe.

Nina Grünauer (Text, Interview), ORF News, für ORF Topos, Leonie Markovics (Text, Gestaltung), ORF Topos, Sandra Schober (Grafiken), ORF.at, Roman Bagner (Kamera), Sarah Goldschmidt (Schnitt), beide für ORF Topos

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v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

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Periodenprodukte bergen Risiko

Periodenprodukte bergen Risiko teilenGesundheitKonsumentenschutzWissenschaft

23. Februar 2023, 11:31 Uhr

Binden und Tampons sind nach wie vor die beliebtesten Periodenprodukte. Menstruationstassen und -unterwäsche werden aber immer populärer – und haben eine kleine Revolution ausgelöst (siehe Video). Doch egal ob Einweg- oder Mehrwegprodukte: Ihre Sicherheitsstandards sind in Europa kaum reguliert und liegen auf dem Niveau von Taschentüchern. Ein neues Forschungsprojekt von Chemikerinnen in Wien will das nun ändern und für mehr Sicherheit sorgen.Lukas Wieselberg

„Taschentücher und Periodenprodukte sind beide gesetzlich ähnlich reguliert, auch die Empfehlungen für sie sind sehr ähnlich“, sagt Elisabeth Mertl vom Österreichischen Forschungsinstitut für Chemie und Technik (OFI) in Wien. „Dabei haben Taschentücher nur ein paar Sekunden Kontakt mit der Nase, Menstruationsprodukte hingegen tagelang mit den vaginalen Schleimhäuten.“ Das gesundheitliche Risiko sei also ein ungleich größeres, so die Biotechnologin.

Dennoch gelten Menstruationsartikel in den meisten europäischen Ländern nicht als medizinisches Produkt, im Gegensatz etwa zu den USA. Das hat zur Folge, dass es dort strengere Sicherheitsstandards gibt – und damit auch mehr geforscht werden muss, etwa zur Keimbelastung und zur Veränderung des Materials von Mehrwegprodukten im Laufe der Zeit.

Fehlende gesetzliche Standards

In Österreich stehen Periodenprodukte im Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz und gelten als „Gegenstände, die bestimmungsgemäß äußerlich mit dem menschlichen Körper oder den Schleimhäuten in Berührung kommen“. Im Lebensmittelhandbuch (!) sind zwar mikrobiologische und chemische Standards definiert – etwa Grenzwerte für bestimmte Keime – dabei handelt es sich aber um keine gesetzlichen Anforderungen, wie es von der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) heißt.

Das bedeutet konkret: Menstruationsartikel, deren Keimbelastung über den Grenzwerten liegt, sind nur schwer vom Markt zu nehmen. Zuständig für die Kontrolle ist die AGES, die auf Wunsch der Lebensmittelaufsicht Proben bewerten kann.

Menstruationstassen in verschiedenen Größen, Formen und Farben
Menstruationstassen werden immer beliebter

In Schwerpunktaktionen hat die AGES das zuletzt zweimal getan: Bei 33 Tampons, Binden und Slipeinlagen wurde 2020 österreichweit nur ein Artikel beanstandet, dieser wies eine zwar nicht gesundheitsschädliche, aber deutlich überhöhte Keimbelastung auf. Bei einer Überprüfung von 23 Menstruationstassen beanstandete die AGES 2021 gleich sechs davon, in einem Fall fand sie (gesundheitlich nicht bedenkliche) Weichmacher, in den restlichen Fällen waren die Nutzungsanleitungen mangelhaft.

Lange Tabu und Männerdomäne

Das heißt auch: Nach allem, was bekannt ist, sind Menstruationsartikel in Österreich mehr oder weniger sicher. Aber: Es ist eben nicht alles bekannt. Da es keine gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsstandards und auch keine EU-weite Regulierung gibt, wurde dazu bisher auch relativ wenig geforscht. Das liege zum einen daran, dass es lange ein Tabu war, über die Periode zu reden, und die Forschung sehr lange männerdominiert war, meint OFI-Biotechnologin Mertl (siehe zweites Video). „Zum anderen suggeriert uns die Werbung, dass Menstruationsprodukte sicher sind. Da geht es aber meistens um den Auslaufschutz – dass es also sicher ist, wenn man eine weiße Hose anziehen will. Das hat aber nichts mit gesundheitlicher Sicherheit zu tun.“

Um diese Sicherheitsaspekte zu untersuchen, brauche es grundlegende Analyseverfahren – und viele davon fehlen, sagt die Biotechnologin. Mit ihrem Team arbeitet sie deshalb seit Kurzem im Forschungsprojekt LEIFS („Let it flow safely“) an Methoden, um den toxikologischen und mikrobiologischen Eigenschaften der Periodenprodukte besser nachgehen zu können – etwa was das Potenzial von allergischen Reaktionen oder Infektionen betrifft. Eine relativ bekannte Folge ist das Toxische Schocksyndrom: ein schweres Kreislaufversagen, das in seltenen Fällen durch eine bakterielle Infektion verursacht werden kann, ausgelöst etwa durch Tampons.02:39

Die Chemikerin Elisabeth Mertl (OFI) spricht über die Forschung zu Menstruationsprodukten

Simulation des Körpers im Labor

In ihrem Labor simuliert Mertl deshalb etwa das Blut und die Menstruationsflüssigkeit von Frauen und untersucht, wie diese auf die Bestandteile von Tampons, Binden und Co. reagieren. Bei Mehrwegprodukten wie Menstruationstassen oder Periodenunterwäsche geht es neben dem Material auch um die ideale Reinigung. „Natürlich muss ich die Produkte reinigen. Aber wenn ich das länger mache, verändert sich das Material – und dadurch verändern sich auch seine gesundheitsrelevanten Eigenschaften“, sagt Mertl. Zwar empfehlen viele Herstellerinnen und Hersteller eine maximale Tragedauer, worauf diese Empfehlungen beruhen, sei aber unklar.

Für all diese Aspekte möchten Mertl und ihr Team Grundlagen erarbeiten. Zum Schluss soll eine Art Teststrategie stehen, die eine systematische Sicherheitsbewertung von Menstruationsprodukten ermöglicht. „Und zwar, wenn man träumen darf, auf internationaler Ebene“, sagt Mertl. In der Internationalen Organisation für Normung (ISO) gebe es, spät aber doch, mittlerweile eine Gruppe, die sich mit dem Thema auseinandersetzt.

Mertl ist Teil dieser Gruppe und möchte ihre Forschungsergebnisse in zukünftige internationale ISO-Normen einfließen lassen. Bis dahin ist sie zwiegespalten – einerseits „als Frau verärgert, dass bis jetzt so wenig zu dem Thema geforscht wurde, als Wissenschaftlerin andererseits erfreut darüber, wie viel es da noch zu entdecken gibt“.

Das OFI ist Teil des Forschungsnetzwerks ACR, an der Forschung zu den Menstruationsartikeln beteiligen sich auch die Lebensmittelversuchsanstalt und das Industriewissenschaftliche Institut.

Lukas Wieselberg (Text und Gestaltung), science.ORF.at, Anette König (Kamera), für ORF Topos, Marlene Mayer (Schnitt), für ORF Topos

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v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

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Vaginismus – Schmerzen als Tabu

Vaginismus – Schmerzen als Tabu teilenGesundheitSexualitätWissenschaft

26. Februar 2023, 06:00 Uhr

Über die Sexualfunktionsstörung Vaginismus ist wenig bekannt, zum Teil wissen selbst Betroffene nicht, was mit ihnen los ist, wenn die Beckenbodenmuskulatur schmerzt und verkrampft (siehe Erklärvideo oben). Dabei könnte nach Schätzungen jede fünfte Frau betroffen sein. Bis eine entsprechende Diagnose gestellt wird, können Jahre vergehen. Denn einerseits reden Betroffene aus Scham nicht über ihre Symptome, andererseits mangelt es an Wissen und Sensibilisierung beim Fachpersonal.Lena Hager

„Ich wünsche alles Gute für die Vaginismus-Reise!“ – damit bringt Christina Hopf die Problematik auf den Punkt. Die 38-Jährige war selbst 15 Jahre lang von einem primären Vaginismus betroffen und gründete 2019 die Selbsthilfegruppe „Invisible Wall“ in Wien. Seit Jahresbeginn ist die Gruppe in ganz Österreich aktiv. „Es ist teilweise wie eine Blackbox, weil Vaginismus so wenig erforscht ist“, erzählt sie im Gespräch mit ORF Topos. Ein weiteres Problem sei, dass einige Ärztinnen und Ärzte Vaginismus nicht kennen würden. Daher müssen Betroffene Geschichten von anderen lesen oder hören, um sich in den Symptomatiken wiederzukennen.

Bei Vaginismus handelt es sich um eine unwillkürliche Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur, wodurch ein gewolltes vaginales Einführen nicht möglich oder sehr schmerzhaft ist. Penetrativer Geschlechtsverkehr, eine gynäkologische Untersuchung oder die Verwendung eines Tampons ist nicht oder kaum möglich.

Die Gynäkologin und Sexualmedizinerin Andrea Kottmel betreibt eine Privatpraxis in Wien und ist auf Schmerzthemen spezialisiert. Sie weist darauf hin, dass eine Abgrenzung von Vaginismus zu anderen Schmerzstörungen wie Vulvodynie und Dyspareunie in vielen Fällen schwierig sei. Denn oftmals sei nicht eindeutig erkennbar, ob etwa zuerst der Schmerz einsetzt und dann die Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur folgt.

Bei Vulvodynie erleben Betroffene Schmerzen im Rahmen der Sexualität, aber auch im Alltag, etwa beim Radfahren. Bei Dyspareunie treten Schmerzen während der Penetration auf.

Zu wenige Studien

„Es ist nicht wie bei einem Blutbild, wo klar ersichtlich ist, dass bestimmte Werte einen gewissen Befund ergeben“, erklärt Michaela Bayerle-Eder, Fachärztin für Innere Medizin und Sexualmedizin an der MedUni Wien. Wie viel Unwissenheit noch vorherrscht, zeigt zudem der Blick auf die Zahlen. Denn konkrete Auskünfte, wie viele Vaginismus-Betroffene es gibt, sind schwierig. „Es gibt Angaben von ein bis zehn oder auch 20 Prozent, je nachdem, was dazugerechnet wird“, so Gynäkologin Kottmel. Selbsthilfegruppe-Gründerin Hopf kennt Schätzungen, die von einer Dunkelziffer von bis zu 30 Prozent ausgehen.

Ein weiterer Faktor für die dünne Studienlage sei der Umstand, dass viele Therapien im Einzelsetting angeboten werden, was eine Erhebung erschwere, so Kottmel. Zudem spiele die Finanzierung eine Rolle. Sie berichtet von „viel Kummer und Leid, da oft nicht eine wissenschaftliche Datenlage die Grundlage bietet, für welche Therapie sich Patientinnen letztendlich entscheiden“.

Fehlendes Wissen und Zeit in der Praxis

Für viele Betroffene seien Gynäkologinnen und Gynäkologen die erste Anlaufstelle. Doch hier gebe es immer wieder sehr negative Erfahrungen, erzählt Hopf. „Viele Betroffene haben einen Ärztemarathon hinter sich, da Vaginismus nicht erkannt oder nicht ernst genommen wurde. Ein Klassiker bei den Empfehlungen ist, man solle zur Entspannung ein Glas Wein trinken“, berichtet Hopf. Eines der größten Probleme seien Untersuchungen, die „wehtun und bei denen weitergemacht wird“. Eine Anlaufstelle für Betroffene sowie eine Auflistung von Spezialistinnen und Spezialisten könnte die Situation verbessern, meint Hopf.

Porträt von Christina Hopf

Hopf: „Austausch mit anderen Betroffenen wichtig“

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Dass es zu solch negativen Erlebnissen bei Untersuchungen komme, liege primär am Zeitmangel, der vor allem auch im Kassensystem bestehe, erklärt Gynäkologin Kottmel. Die Abwehr- bzw. Angstreaktion im Rahmen einer gynäkologischen Untersuchung werde auf den Umstand geschoben, dass hier eine unangenehme Situation vorliege und nicht eine krankhafte Reaktion.

Junge Frau macht ein Beratungsgespräch bei einer Gynäkologin
Bei der Diagnose und Behandlung von Vaginismus sind zuhören und ausreichend Zeit entscheidend

Neben ausreichend Zeit sei ein wichtiger Faktor, der Patientin zuzuhören. Sie sehe es als ihre Aufgabe und die ihrer Kollegschaft, zunächst nachzufragen, ob die Patientin wirklich untersucht werden möchte, wo ihre Grenzen liegen und dass die Möglichkeit aufgezeigt wird, die Untersuchung zu verschieben, erläutert Kottmel.

Oft werden Sexualfunktionsstörungen sowohl von Patientinnen als auch von Ärztinnen und Ärzten tabuisiert, erklärt Sexualmedizinerin Bayerle-Eder. „Wenn dann darüber gesprochen wird, fehlt oftmals die entsprechende Ausbildung.“ Sie setzt sich dafür ein, dass an der MedUni Wien Sexualmedizin als Wahlfach angeboten wird.

Hohe finanzielle Belastung

Der Zeit- und teilweise auch Wissensmangel führt dazu, dass Betroffene oftmals auf kostspielige Privatordinationen ausweichen. Zusätzlich müssen sie für die notwendigen Behandlungen, wie Psycho- und Physiotherapie, aufkommen. Die finanzielle Komponente ist ein großes Thema, so Kottmel, da sich viele Patientinnen „keine Einzelsetting-Therapie leisten können. Hier fehlt es an ausreichenden Angeboten im kassenmedizinischen System“. Auch Hopf wünscht sich mehr Unterstützung durch die Krankenkasse.

Denn sexuelle Funktionsstörungen gelten nicht als Krankheit im Sinn des Sozialversicherungsrechts. Daher habe sie vor zehn Jahren versucht, dass die Sexualmedizin im Kassensystem berücksichtigt wird, erzählt Bayerle-Eder im Gespräch mit ORF Topos, doch „keine Chance“. Sie verweist auf Daten aus den USA, die zeigen, wie die Behandlung von Sexualfunktionsstörungen Folgeerkrankungen verhindern könne.

Behandlungen sehr individuell

Wenn eine Wahltherapie finanziell nicht möglich ist, können hybride Lösungen in Form von Selbsthilfebüchern, Onlinekursen und Selbsthilfegruppen eine gute Unterstützung bieten, so Kottmel. Jedoch gebe es auch viele schlechte Onlinekurse, es fehle an einer Zertifizierung. Hopf weist darauf hin, dass ein guter Onlinekurs als Überbrückung der Wartezeit auf einen Therapieplatz oder als erste Hilfestellung dienen kann. Sie rät dazu, dass Behandlungen in Rücksprache mit einer Expertin oder einem Experten stattfinden. Das gelte auch beim Beckenboden- oder Dilatorentraining.

Porträt von Christina Hopf

Hopf: Gesellschaft „spielt große Rolle“

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Ein Thema, das immer wieder aufkommt, ist die Empfehlung, das Hymen entfernen zu lassen, berichtet Hopf. Betroffene würden sich Hoffnungen machen, doch nach der Entfernung sind die Symptome immer noch vorhanden. „Die Begründung für eine große Anzahl solcher Operationen ist nicht nachvollziehbar“, so Kottmel. Es gebe schon Fälle, bei denen es zu einem Teilverschluss komme, doch das sei sehr selten. „Hier handelt es sich dann um eine Entwicklungsstörung der Membran und nicht um eine Sexualfunktionsstörung“ erklärt die Expertin.

Die Behandlung mit Botox sei ebenfalls ambivalent zu betrachten. Oft werde dies als ein schneller und kosteneffizienter Weg angesehen, um die Muskelanspannung zu reduzieren. „Es kann einem Teil der Patientinnen helfen, die erste Funktionshürde zu nehmen. Aber Betroffene, die sich eine willkürliche Muskelentspannung selbst erarbeiten, haben meiner Meinung nach mehr und längerfristig Erfolg“, erklärt Kottmel.

Selbsthilfegruppe-Initiatorin Hopf habe die Erfahrung gemacht, dass eine Behandlung, die physische und psychische Komponenten beinhaltet, sehr hilfreich sein kann. Das muss jedoch nicht auf jede zutreffen. Denn: „Vaginismus ist in seinen Ursachen, Symptomatiken und Behandlungsmethoden enorm vielfältig. Ganz wichtig ist es, dass jede Betroffene ihren eigenen Weg findet.“

Lena Hager (Text und Redaktion), Selina Maurovich (Animation), beide ORF Topos

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v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

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