Junge Migranten gegen Gewalt an Frauen
Junge Migranten gegen Gewalt an Frauen teilenGesellschaftGenderJugend
07. März 2023, 12:09 Uhr
In Österreich ist jede dritte Frau ab dem 15. Lebensjahr mindestens einmal im Leben von Gewalt betroffen. Femizide und Morde sind die Spitze des Eisbergs. In der Onlinekampagne „#KeineEinzigeSchwesterMehr“ sprechen migrantische Jugendliche aus Wien über Gewalt gegen Frauen. ORF Topos hat mit ihnen über toxische Geschlechterrollen (im Video) gesprochen.Leonie Markovics, Nina Grünauer
Wegen der hohen Gewaltrate und der zahlreichen Femizide in Österreich wollen migrantische Jugendliche mit dem Onlineprojekt „Bro&Kontra: #KeineEinzigeSchwesterMehr“ auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen. Es geht um toxische Männlichkeit – und darum, wie Junge veraltete patriarchale Denkmuster überwinden können. „Ich glaube, der Hauptgrund sind eifersüchtige Männer“, sagt der 17-jährige Orhan zu ORF Topos. In der Kampagne verarbeiten die Jugendlichen Erfahrungen mit Gewalt gegen Frauen, die sie zum Teil selbst erlebt haben. Zum Schutz ihrer Identität haben sie sich maskiert und verwenden Pseudonyme.
Warum manche Männer überhaupt gewalttätig werden, habe auch damit zu tun, „wie man das gelernt hat, ob man es im eigenen Bekanntenkreis so gesehen hat“, so der 17-jährige Marko. Ziel der Kampagne ist, Jugendlichen Alternativen zu Gewalt aufzuzeigen. Das Projekt wird vom Juvivo-Jugendtreff im 21. Bezirk gemeinsam mit der Beratungsstelle Extremismus (boja) begleitet.

„Viele männliche Jugendliche aus migrantischen Milieus haben stark traditionell geprägte Männlichkeitsvorstellungen“, sagt Sertan Batur zu ORF Topos. Batur leitet den Juvivo-Jugendtreff, ist klinischer Psychologe und in der Männerberatung Wien tätig. Er kennt die Jugendlichen hinter der Kampagne, viele von ihnen sind Arbeiterkinder und in Wien aufgewachsen. Traditionelle Rollenbilder und patriarchale Strukturen seien häufig noch in Arbeiterfamilien verankert, „in den migrantischen Familien, aber genauso in den Familien ohne Migrationshintergrund“, so der Psychologe.
Das präge die Jugendlichen. Es existierten klischeehafte Bilder von Männlichkeit wie jenes, „dass Männer immer stark sein sollen“, woran die Jugendlichen in der Realität häufig scheitern. Oft wüssten die jungen Männer nicht, „wie sie mit Aggressionen und Wut umgehen sollen, wenn sie verletzt werden“, so Batur.
Medienberichte beeinflussen Selbstbild
Aggression und Betroffenheit beruhe dabei auch auf der medialen Diskussion über die migrantischen jungen Männer selbst, erklärt Paul Scheibelhofer, der unter anderem zu „kritischer Männlichkeitsforschung“ als auch zu „Migration und Rassismus“ an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck forscht. Scheibelhofer erklärt: „Studien zeigen wiederholt, dass migrantische und geflüchtete Männer die negativen Bilder kennen, die über sie existieren. Sie sehen diese Bilder in den sozialen Medien und auf Wahlplakaten, sie begegnen ihnen in Schule, Beruf und Alltag.“
Stereotype Bilder machen die Burschen wütend und betroffen, da sie damit der Verallgemeinerung zum Opfer fallen. „Denn die vorherrschenden medial vermittelten Bilder stellen migrantische Männer als rückständig und sexuell gefährlich dar. Damit begünstigen sie eine feindliche Stimmung gegenüber diesen Männern und verschärfen die ohnehin oft prekäre Lebenssituation, in der sich viele befinden“, so Scheibelhofer. Neben dem Druck aus der eigenen Community wirken damit auch Medienberichte negativ auf das Selbstbild der jungen Männer ein.
„Viele Frauen erkennen Grenzverletzungen nicht einmal“
Sich über veraltete und patriarchale Denkmuster und Erwartungen aus der eigenen Community hinwegzusetzen, habe weniger mit Mut zu tun, „als mit persönlicher Notwendigkeit“, sagt die 26-jährige Journalistin Nada El-Azar-Chekh. Sie spricht öffentlich über die Gewalt, die sie in ihrer eigenen Familie und Community erlebt hat. Allgemein würden viele junge Mädchen und Frauen Grenzverletzungen nicht erkennen, „da sie in ihren Familien niemals dazu animiert wurden, dass sie eine schützenswerte Privatsphäre hätten“, sagt El-Azar-Chekh zu ORF Topos. Der erste Schritt sei daher immer: „Eigene Grenzen erkennen, dann festlegen und dann verteidigen.“ Gemeinsam mit dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) hat die Journalistin einen Leitfaden für junge Frauen verfasst, um auf Grauzonen von Gewalt hinzuweisen.
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Viele Gesichter der Gewalt
Kontrolle und Überwachung durch den Partner oder die Familie seien Gewaltformen, von denen Mädchen und Frauen häufig betroffen sind, weiß Tamar Citak, Beraterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt aus langjähriger Erfahrung. Es gibt unterschiedliche Formen von Gewalt, körperliche, psychische, sexuelle, ökonomische und soziale Gewalt – die Grenzen sind oft fließend.
Gewalt an Frauen beginnt bei Werten, Einstellungen, Überzeugungen und Vorurteilen – an der Spitze stehen Suizide und vor allem Morde. Je mehr sich die Pyramide zuspitzt, desto weniger Menschen sind zwar direkt betroffen, doch die Schwere der Gewalt nimmt weiter zu. Strukturelle Gewalt (als Folge von Ungleichheiten in der Gesellschaft) bildet also unter anderem den Nährboden für personelle Gewalt, die von einer einzelnen Person ausgeübt wird. Das Prinzip von Macht und Kontrolle bleibt aber in allen Stufen das gleiche.

Die Stufen der Gewaltentwicklung, wie sie in der Gewaltpyramide veranschaulicht sind, bieten zwar eine Orientierung darüber, wie Gewalt entstehen kann, „aber nicht alle Frauen erleben dasselbe“, erklärt Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser, im Gespräch mit ORF.at. Gewalt verläuft nicht immer linear oder stufenweise.

Die vielen Gesicher der gelernten Gewalt
Die Formen von Gewalt, die Frauen durch Beziehungspartner erleben, sind vielfältig. Aber: Gewalt wird gelernt, sind sich Opferschutzorganisationen und Männerberatungsstellen einig. Was es daher braucht und sofort geben kann, sind Vorbilder, sagen Expertinnen und Experten zu ORF.at.
Viele Barrieren für Migrantinnen
Gewalt an Frauen hänge nicht mit der Herkunft oder mit einer Staatszugehörigkeit zusammen, und Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung seien generell nicht häufiger von Gewalt betroffen als inländische Frauen, heißt es in einem Bericht des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF).
Häufig würden diese Frauen aber mehrfach benachteiligt, sagen Expertinnen und Experten: Geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bildungswesen können zu finanziellen Abhängigkeiten führen, „die Frauen mitunter zwingen, in Gewaltverhältnissen zu bleiben“, sagt Najwa Duzdar, Leiterin der Beratungsstelle Orient Express zu ORF Topos.
Besonders schwierig wird die Lage, wenn der Aufenthaltstitel der Mädchen und Frauen an den Ehemann geknüpft ist. Scham und Angst vor Stigmatisierung hält Frauen allgemein oft davon ab, über ihre Erfahrungen zu sprechen und Hilfe zu suchen, bei Frauen mit Migrationsgeschichte komme noch die Sorge dazu, „rassistische Klischees und Vorurteile zu bedienen“, so Duzdar. Hinzu kommen Sprachbarrieren, ein fehlendes soziales Netzwerk oder fehlende Anonymität, insbesondere bei Mädchen und Frauen, die noch nicht lange in Österreich sind, fügt Citak hinzu.
Hilfe für Frauen
- 24-Stunden-Frauennotruf: 0171719
- Rat auf Draht: 147
- Frauen-Helpline: 0800222555
- Zusammenschluss Österreichischer Frauenhäuser
- Gewaltschutzzentren Österreichs
Gewalt, um „Macht und Kontrolle auszuüben“
In sehr traditionellen Familien, unabhängig der ethnischen Herkunft, würden Männer einen gefühlten Autoritätsverlust oft darin erleben, „dass sich Machtverhältnisse verschieben“, sagt die Soziologin Karin Steiner: „Beispielsweise, wenn Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen, damit finanziell unabhängiger werden und auch mehr externe Kontakte nutzen können, um sich aus einer ungesunden Beziehung zu emanzipieren“, so Steiner. Gewalt gegen Frauen habe immer die Funktion, „Macht und Kontrolle auszuüben beziehungsweise die Autorität des Mannes wiederherzustellen“, sagt die Soziologin.
Allein in dem bisher kurzen Jahr 2023 wurde bis zum 27. Februar in den Medien von 18 Fällen schwerer Gewalt sowie sechs Morden an Frauen berichtet. Diese Zahlen stammen aus einer Aufstellung des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser, der regelmäßig Medienberichte über schwere Gewaltverbrechen und Femizide zusammenträgt.
Die Dunkelziffer liegt weit höher. Im Vorjahr (2022) wurden 14.643 Betretungs- und Annäherungsverbote von der Polizei verhängt. 90 Prozent der Gefährder sind dabei männlich, berichtet die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. Schätzungen der Polizei zufolge werden rund 90 Prozent aller Gewalttaten in der Familie und im sozialen Nahraum ausgeübt.
Beratung für Männer
- Männerinfo: 0800 400 777
- Männerberatung Mannsbilder: 0512 576644
- Männernotruf: 0800 246 247
- Männerberatung Wien: 016032828
- Männerberatung der Caritas: 02742 353510 335
- „CariM“ Interkulturelle Männerberatung der Caritas
Mehr Prävention und Beratungsangebote
In Schulen oder Jugendzentren sei es wichtig, Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung über ihre Rechte und Hilfsangebote zu informieren, sagt Citak. Diese Mädchen und Frauen wüssten, was auf sie zukomme, wenn sie sich gegen den gewalttätigen Partner oder die gewalttätige Familie wehren, aber „sie müssen wissen, wenn sie den Schritt gehen, wohin können sie sich wenden, was sind ihre Rechte“, so Citak weiter.
Um Mädchen und junge Frauen in solchen Situationen aufzufangen, aber auch präventiv zu unterstützen und zu stärken, wurde das Zentrum Bakhti im 15. Bezirk gegründet. Das Zentrum, das im Februar eröffnet wurde, richtet sich an Teenager und junge Frauen zwischen 14 und 21 Jahren, die bereits direkt oder indirekt Gewalterfahrungen erleben mussten. Auch für Burschen gibt es Angebote.
„Um die Situation in puncto Gewalt an Frauen zu verändern, müssen wir sowohl die negativen Bilder als auch die soziale Ungleichheit angehen, von der migrantische Männer wie Frauen in Österreich betroffen sind“, so Scheibelhofer. Zudem brauche es Zusammenhalt und Solidarität innerhalb der Gesellschaft, so der Experte.
Im Rahmen der Burschenarbeit und Präventionsarbeit im Juvivo.21-Jugendtreff werden toxische Geschlechterrollen und Männlichkeitsbilder reflektiert und diskutiert. Es geht um Fragen wie „Wie sieht deine ideale Beziehung aus oder welche Ziele willst du in deinem Leben erreichen?“, um zu schauen, ob die Verhaltensweisen mit den eigenen Wünschen „zusammenpassen oder nicht“, erklärt Batur. Es gehe darum, den Jugendlichen gleichberechtigte Geschlechterbilder zu vermitteln, sie in ihrem Selbstwert zu stärken „und andere Lösungen zu finden als Gewalt“, so der Psychologe.
Nina Grünauer (Text, Interview), ORF News, für ORF Topos, Leonie Markovics (Text, Gestaltung), ORF Topos, Sandra Schober (Grafiken), ORF.at, Roman Bagner (Kamera), Sarah Goldschmidt (Schnitt), beide für ORF Topos
Links:
- Bro&Kontra (Instagram)
- Juvivo.21 (Jugendtreff)
- Paul Scheibelhofer (Universität Innsbruck)
- Verein Autonome Frauenhäuser (AÖF)
- Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie
- Beratungsstelle Extremismus (boja)
- Orient Express (Beratungsstelle)
- Zentrum Bakhti
- Broschüre „Nicht OK!“
- Österreichischer Integrationsfonds (ÖIF)
v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)
QELLE : ORF.AT TOPOS