Koks, „#MeToo“ und Insta
Koks, „#MeToo“ und Insta teilenKritikKulturLiteraturFeminismus
12. Februar 2023, 06:00 Uhr
Mit ihrer Vernon-Subutex-Trilogie ist die ehemals als Skandalautorin bekannte Virginie Despentes beim französischen Publikum zum Star aufgestiegen. Mit „Liebes Arschloch“ hat sie einen psychologisch vielschichtigen modernen Briefroman über „#MeToo“ vorgelegt, in dem ihre Figuren Rollenbilder und Generationenfragen aushandeln. Wie Drogen und Alkohol die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen, hat sie besonders interessiert, wie sie im Interview sagt (siehe Videoclip oben).Florian Baranyi
Noch vor zwanzig Jahren war Despentes der fleischgewordene französische Klassenkampf. Im kleinbürgerlichen Milieu in Lyon weit von einer behüteten Kindheit aufgewachsen, debütierte sie 1993 mit „Baise-moi“ (zunächst in Übersetzung 2000 als „Wölfe fangen“ und später mit dem wörtlichen Titel „Fick mich!“ erschienen). Darin beginnen die beiden vergewaltigten jungen Frauen Manu und Nadine einen Rachefeldzug gegen Männer und ziehen mordend durch Frankreich.
Spätestens als Despentes ihren Roman zusammen mit der ehemaligen Pornodarstellerin Coralie Trinh Thi verfilmte und in Interviews von ihrer Vergangenheit als Prostituierte berichtete, war ihr Ruf als Bürgerschreck gefestigt. Sie garantierte für Direktheit und Brutalität, aber erst nach und nach wurde klar, wie gekonnt sie diese Energie in ihre Werke umsetzte.

Moderner Briefroman auf Instagram
In ihrem feministischen Essayband „King-Kong-Theorie“ erzählte sie davon, selbst vergewaltigt worden zu sein – und schloss daran eine differenzierte Analyse männlicher Identitätskonzepte an, die sich über Abwertung von Weiblichkeit definieren. Diese Essays schwingen in „Liebes Arschloch“ genauso mit wie Despentes Beschäftigung mit Drogen und Subkulturen, die sie in ihrer enorm erfolgreichen Trilogie rund um den ehemaligen Punkmusiker und – als Plattenhändler – Verlierer der Digitalisierung, Vernon Subutex, zelebrierte.
Der gefeierte Autor Oscar Jayack setzt auf Instagram einen beleidigenden Kommentar über die Schauspielerin Rebecca Latté ab, wobei die Formulierung, sie sei die „tragische Metapher einer Epoche, die den Bach runtergeht“ noch den nettesten Teil darstellt. Prompt antwortet ihm Latté mit der titelgebenden Anrede „Liebes Arschloch“. Was da anfangs allein schon wegen des Tons und der Länge der gegenseitigen Nachrichten etwas unplausibel scheint, entwickelt sich rasch zu einem modernen Briefroman, in dem sich Oscar und Rebecca immer mehr einander annähern.
Denn diese unwahrscheinlichen neuen besten Freunde teilen viel: Substanzenabhängigkeit – Alkohol, Kokain und Marihuana bei Oscar, Heroin und Crack bei Rebecca –, die gemeinsame Herkunft aus der unteren Mittelschicht und einen biografischen Bezugspunkt, war doch Rebecca in ihrer Jugend eine Freundin von Oscars Schwester, mit der er eine angespannte Beziehung führt.
Feminismus als japanisches Kampfschwert
Als die ehemalige Pressereferentin und inzwischen reichweitenstarke feministische Bloggerin Zoé Katana in der beginnenden „#MeToo“-Bewegung Oscar vorwirft, sie systematisch betrunken bedrängt zu haben und der Grund zu sein, warum sie ihren Job in einem Pariser Großverlag verloren hat, ist es Rebecca, die Oscar als um keine Direktheit verlegene Sparringpartnerin beibringt, dass er keineswegs das Unschuldslamm ist, als das er sich in Selbstmitleid zerfließend imaginiert. Dabei ist sie höchst reflektiert und witzig, moralisiert nicht und bleibt genauso auf Distanz zu ihm wie auch zu Zoés – deren Nachname nicht zufällig auch der Name eines japanischen Langschwerts ist – zugespitzten theoretischen Positionen.
Wie Despentes hier in einem von Blogeinträgen durchbrochenen Dialog komplexe Gesellschaftsanalyse vermittelt, zeigt ihr großes literarisches Können. Vom Soziologen Erving Goffmann stammt die These, dass wir alle Theater spielen – soll heißen, dass man in diversen gesellschaftlichen Verhältnissen zugedachte Rollen annimmt und oft besser mitspielt, als es einem bewusst ist. Rebecca ist eine Spezialistin im Benennen der Masken des Patriarchats: Dass Männer an der Verkörperung der Rolle von Männlichkeit zugrunde gehen können – wie eben Oscar – und einzelne Frauen wie sie selbst wunderbar davon profitieren können, die Komplizinnen einer Männlichkeitsvorstellung zu sein, die Frauen systematisch abwertet, weiß sie in einem Ton auf den Punkt zu bringen, der nach Punkrock klingt und nicht nach philosophischem Proseminar.
Despentes ist es gelungen, aus einem heiß umkämpften gesellschaftlichen Thema einen Roman zu machen, der sich nicht in einer These erschöpft – sondern die Frage ausbuchstabiert, wie man sich trotz der komplizierten Überlagerung von Schuld, Opfer, persönlichem Leidensdruck und auf sozialen Netzwerken sich verselbstständigender öffentlicher Meinung einander annähern und miteinander auskommen kann. Dass sich Oscar und Rebecca entwickeln dürfen – Entzug und emotionale Aufarbeitung der eigenen Unzulänglichkeiten inklusive – und die Pandemie- und Lockdown-Zeiten der vergangenen Jahre produktiv befragt werden, ist „Liebes Arschloch“ hoch anzurechnen.
Florian Baranyi (Gestaltung und Text), ORF Topos, Laura Russo (Schnitt), für ORF Topos
Sendungshinweis: ZIB 13.00, 8.02.2023
Links:
v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)
QELLE : ORF.AT TOPOS