Vaginismus – Schmerzen als Tabu
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26. Februar 2023, 06:00 Uhr
Über die Sexualfunktionsstörung Vaginismus ist wenig bekannt, zum Teil wissen selbst Betroffene nicht, was mit ihnen los ist, wenn die Beckenbodenmuskulatur schmerzt und verkrampft (siehe Erklärvideo oben). Dabei könnte nach Schätzungen jede fünfte Frau betroffen sein. Bis eine entsprechende Diagnose gestellt wird, können Jahre vergehen. Denn einerseits reden Betroffene aus Scham nicht über ihre Symptome, andererseits mangelt es an Wissen und Sensibilisierung beim Fachpersonal.Lena Hager
„Ich wünsche alles Gute für die Vaginismus-Reise!“ – damit bringt Christina Hopf die Problematik auf den Punkt. Die 38-Jährige war selbst 15 Jahre lang von einem primären Vaginismus betroffen und gründete 2019 die Selbsthilfegruppe „Invisible Wall“ in Wien. Seit Jahresbeginn ist die Gruppe in ganz Österreich aktiv. „Es ist teilweise wie eine Blackbox, weil Vaginismus so wenig erforscht ist“, erzählt sie im Gespräch mit ORF Topos. Ein weiteres Problem sei, dass einige Ärztinnen und Ärzte Vaginismus nicht kennen würden. Daher müssen Betroffene Geschichten von anderen lesen oder hören, um sich in den Symptomatiken wiederzukennen.
Bei Vaginismus handelt es sich um eine unwillkürliche Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur, wodurch ein gewolltes vaginales Einführen nicht möglich oder sehr schmerzhaft ist. Penetrativer Geschlechtsverkehr, eine gynäkologische Untersuchung oder die Verwendung eines Tampons ist nicht oder kaum möglich.
Die Gynäkologin und Sexualmedizinerin Andrea Kottmel betreibt eine Privatpraxis in Wien und ist auf Schmerzthemen spezialisiert. Sie weist darauf hin, dass eine Abgrenzung von Vaginismus zu anderen Schmerzstörungen wie Vulvodynie und Dyspareunie in vielen Fällen schwierig sei. Denn oftmals sei nicht eindeutig erkennbar, ob etwa zuerst der Schmerz einsetzt und dann die Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur folgt.
Bei Vulvodynie erleben Betroffene Schmerzen im Rahmen der Sexualität, aber auch im Alltag, etwa beim Radfahren. Bei Dyspareunie treten Schmerzen während der Penetration auf.
Zu wenige Studien
„Es ist nicht wie bei einem Blutbild, wo klar ersichtlich ist, dass bestimmte Werte einen gewissen Befund ergeben“, erklärt Michaela Bayerle-Eder, Fachärztin für Innere Medizin und Sexualmedizin an der MedUni Wien. Wie viel Unwissenheit noch vorherrscht, zeigt zudem der Blick auf die Zahlen. Denn konkrete Auskünfte, wie viele Vaginismus-Betroffene es gibt, sind schwierig. „Es gibt Angaben von ein bis zehn oder auch 20 Prozent, je nachdem, was dazugerechnet wird“, so Gynäkologin Kottmel. Selbsthilfegruppe-Gründerin Hopf kennt Schätzungen, die von einer Dunkelziffer von bis zu 30 Prozent ausgehen.
Ein weiterer Faktor für die dünne Studienlage sei der Umstand, dass viele Therapien im Einzelsetting angeboten werden, was eine Erhebung erschwere, so Kottmel. Zudem spiele die Finanzierung eine Rolle. Sie berichtet von „viel Kummer und Leid, da oft nicht eine wissenschaftliche Datenlage die Grundlage bietet, für welche Therapie sich Patientinnen letztendlich entscheiden“.
Fehlendes Wissen und Zeit in der Praxis
Für viele Betroffene seien Gynäkologinnen und Gynäkologen die erste Anlaufstelle. Doch hier gebe es immer wieder sehr negative Erfahrungen, erzählt Hopf. „Viele Betroffene haben einen Ärztemarathon hinter sich, da Vaginismus nicht erkannt oder nicht ernst genommen wurde. Ein Klassiker bei den Empfehlungen ist, man solle zur Entspannung ein Glas Wein trinken“, berichtet Hopf. Eines der größten Probleme seien Untersuchungen, die „wehtun und bei denen weitergemacht wird“. Eine Anlaufstelle für Betroffene sowie eine Auflistung von Spezialistinnen und Spezialisten könnte die Situation verbessern, meint Hopf.

Hopf: „Austausch mit anderen Betroffenen wichtig“
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Dass es zu solch negativen Erlebnissen bei Untersuchungen komme, liege primär am Zeitmangel, der vor allem auch im Kassensystem bestehe, erklärt Gynäkologin Kottmel. Die Abwehr- bzw. Angstreaktion im Rahmen einer gynäkologischen Untersuchung werde auf den Umstand geschoben, dass hier eine unangenehme Situation vorliege und nicht eine krankhafte Reaktion.

Neben ausreichend Zeit sei ein wichtiger Faktor, der Patientin zuzuhören. Sie sehe es als ihre Aufgabe und die ihrer Kollegschaft, zunächst nachzufragen, ob die Patientin wirklich untersucht werden möchte, wo ihre Grenzen liegen und dass die Möglichkeit aufgezeigt wird, die Untersuchung zu verschieben, erläutert Kottmel.
Oft werden Sexualfunktionsstörungen sowohl von Patientinnen als auch von Ärztinnen und Ärzten tabuisiert, erklärt Sexualmedizinerin Bayerle-Eder. „Wenn dann darüber gesprochen wird, fehlt oftmals die entsprechende Ausbildung.“ Sie setzt sich dafür ein, dass an der MedUni Wien Sexualmedizin als Wahlfach angeboten wird.
Hohe finanzielle Belastung
Der Zeit- und teilweise auch Wissensmangel führt dazu, dass Betroffene oftmals auf kostspielige Privatordinationen ausweichen. Zusätzlich müssen sie für die notwendigen Behandlungen, wie Psycho- und Physiotherapie, aufkommen. Die finanzielle Komponente ist ein großes Thema, so Kottmel, da sich viele Patientinnen „keine Einzelsetting-Therapie leisten können. Hier fehlt es an ausreichenden Angeboten im kassenmedizinischen System“. Auch Hopf wünscht sich mehr Unterstützung durch die Krankenkasse.
Denn sexuelle Funktionsstörungen gelten nicht als Krankheit im Sinn des Sozialversicherungsrechts. Daher habe sie vor zehn Jahren versucht, dass die Sexualmedizin im Kassensystem berücksichtigt wird, erzählt Bayerle-Eder im Gespräch mit ORF Topos, doch „keine Chance“. Sie verweist auf Daten aus den USA, die zeigen, wie die Behandlung von Sexualfunktionsstörungen Folgeerkrankungen verhindern könne.
Behandlungen sehr individuell
Wenn eine Wahltherapie finanziell nicht möglich ist, können hybride Lösungen in Form von Selbsthilfebüchern, Onlinekursen und Selbsthilfegruppen eine gute Unterstützung bieten, so Kottmel. Jedoch gebe es auch viele schlechte Onlinekurse, es fehle an einer Zertifizierung. Hopf weist darauf hin, dass ein guter Onlinekurs als Überbrückung der Wartezeit auf einen Therapieplatz oder als erste Hilfestellung dienen kann. Sie rät dazu, dass Behandlungen in Rücksprache mit einer Expertin oder einem Experten stattfinden. Das gelte auch beim Beckenboden- oder Dilatorentraining.

Hopf: Gesellschaft „spielt große Rolle“
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Ein Thema, das immer wieder aufkommt, ist die Empfehlung, das Hymen entfernen zu lassen, berichtet Hopf. Betroffene würden sich Hoffnungen machen, doch nach der Entfernung sind die Symptome immer noch vorhanden. „Die Begründung für eine große Anzahl solcher Operationen ist nicht nachvollziehbar“, so Kottmel. Es gebe schon Fälle, bei denen es zu einem Teilverschluss komme, doch das sei sehr selten. „Hier handelt es sich dann um eine Entwicklungsstörung der Membran und nicht um eine Sexualfunktionsstörung“ erklärt die Expertin.
Die Behandlung mit Botox sei ebenfalls ambivalent zu betrachten. Oft werde dies als ein schneller und kosteneffizienter Weg angesehen, um die Muskelanspannung zu reduzieren. „Es kann einem Teil der Patientinnen helfen, die erste Funktionshürde zu nehmen. Aber Betroffene, die sich eine willkürliche Muskelentspannung selbst erarbeiten, haben meiner Meinung nach mehr und längerfristig Erfolg“, erklärt Kottmel.
Selbsthilfegruppe-Initiatorin Hopf habe die Erfahrung gemacht, dass eine Behandlung, die physische und psychische Komponenten beinhaltet, sehr hilfreich sein kann. Das muss jedoch nicht auf jede zutreffen. Denn: „Vaginismus ist in seinen Ursachen, Symptomatiken und Behandlungsmethoden enorm vielfältig. Ganz wichtig ist es, dass jede Betroffene ihren eigenen Weg findet.“
Lena Hager (Text und Redaktion), Selina Maurovich (Animation), beide ORF Topos
Links:
- Selbsthilfegruppe „Invisible Wall“ auf Instagram
- „Sexualmedizin Interdisziplinär“ – Kongress der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Sexualmedizin und der Sexuellen Gesundheit
- Gynäkologische Praxis mit Schwerpunkt Sexualmedizin und Vulvaerkrankungen
v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)
QELLE : ORF.AT TOPOS