Habermas, Thurnher
Wenn die Demokratie zum Theater wird
Wenn die Demokratie zum Theater wird teilenGesellschaftPolitikÖsterreich
18. März 2023, 08:24 Uhr
„Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir über die Medien.“ Dieser gerne zitierte Satz des deutschen Soziologen Niklas Luhmann aus den 1990er Jahren ist in der Gegenwart prekär geworden. Denn ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit höhlt nicht zuletzt die Orte der Vermittlung gesellschaftlichen Wissens aus. Davor warnte zuletzt Jürgen Habermas in einem neuen Werk. Auch „Falter“-Herausgeber Armin Thurnher sorgt sich aktuell in einem neuen Buch um die Unterwanderung der Demokratie von innen. Und vor einer dauerhaften Abkehr vom Faktischen.Gerald Heidegger
Seit Michel de Montaigne gilt der Altersrückzug als besonderer Ort der Reflexion über den Zustand der Gesellschaft und der Welt. Die Pandemie der letzten Jahre hat sehr viele zum Rückzug gezwungen. Und auch Medienleute haben nicht nur aus dem Homeoffice geschrieben, sondern dieses vom Zentrum der Politik mitunter an die Ränder des Landes verlagert. So auch der in Vorarlberg geborene „Falter“-Gründer, -Herausgeber und -Chefredakteur Armin Thurnher. Pikanterweise tat er das mit einem Rückzug nach Niederösterreich, das allgemein als landschaftlich vielfältiges Land gilt, aber in der politischen Topografie bis vor Kurzem als Teil einer gewissen Unerschütterlichkeit gegolten haben mag.
Genau vom Südrand des Waldviertels blickt Thurnher auf den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft – und wie zuletzt Jürgen Habermas, der seinen Klassiker von der Emanzipation der bürgerlichen Welt („Der Strukturwandel der Öffentlichkeit“, 1962) auf gegenwärtige Beine stellen wollte, nimmt der Autor einen Strukturwandel der Öffentlichkeit wahr, in dem die Demokratie erodiert. Weil man sich an neue „freie Meinungsäußerungen“ gewöhnen durfte – auch vonseiten der Regierungspolitik –, die fern faktischer Realitäten angesiedelt waren, sehr wohl aber die Stimmungslagen von mehr oder weniger großen Teilpublika treffen sollten.
Das Ende herkömmlicher Politik ist zu beklagen. Politik als öffentlichkeitsbestimmende, öffentlich räsonierende Kraft scheint aufgegeben zu haben. An ihre Stelle ist Identitätspolitik getreten, jener Mix aus Befindlichkeiten, Wirrnis und Verwirrung des Einzelnen, aus Desinformation und Demagogie, der das fragile Wesen der Demokratie von innen her auffrisst.
Armin Thurnher
Effekt statt Fakten
Gerade das Österreich der letzten Jahre bis zum Ausscheiden von Sebastian Kurz im Kanzleramt liest Thurnher als Theaterstück, in dem die gewünschte Dramaturgie, nicht aber die Fakten, das Kriterium der Stimmigkeit gewesen seien. Das „unverschämte, rücksichtslose Lügenprinzip“ sei in Österreich heimisch geworden, konstatiert Thurnher, der in der Inseratenpolitik eines Werner Faymann (SPÖ) die Vorlage sieht für spätere Prozesse, die Medienlandschaft auf Linie zu bringen sei. Thurnhers „Anstand“ fasst mit Kurz und dem Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (beide ÖVP) nicht nur zwei Spitzenrepräsentanten der Republik sehr scharf ins Auge – er nimmt alle politischen Player des Landes mit in Verantwortung.

Armin Thurnher liest aus „Anstandslos“
Thurnher über seine Begegnung mit Sebastian Kurz bei der „Tafelrunde“ einer PR-Beraterin.Audio
Die sozialdemokratische Opposition täte sich schwer, ihr Engagement für die unteren Schichten zu vermitteln, „weil ihre Exponenten selbst in die Finanzwirtschaft“ strebten. Und, so konstatiert Thurnher: „Neue zivilgesellschaftliche Organisationen stellen sich nicht mehr an die Seite des Sozialstaats, vielmehr definieren sie ihre ethischen Vorstellungen identitätspolitisch oder vor dem Horizont des Überlebens der Gattung.“ Teile dessen, was man einst soziale Bewegungen genannt habe, seien „mit den Grünen unversehens in eine Koalition mit Kräften geraten, die ihren Prinzipien zuwiderlaufen“.
Bücher zum Thema
- Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp 2022, 108 S., 19 Euro.
- Armin Thurnher: Anstandslos. Demokratie. Oligarchie, österreichische Abwege. Zsolnay 2023, 128 S., 20 Euro.
Medien in einer rechtsfreien Zone
„Dem So des falschen Wir der sogenannten Sozialen Medien“ wolle er sich mit seinem Buch stellen, schreibt Thurnher zu Beginn – gerade als Teil der immer als vulnerabel apostrophierten Gruppe der Älteren stellen, um, wie er pointiert schreibt, „gegen das Absterben anzusterben“. Sein Buch, das sich als Langessay aus seinen Seuchenkolumnen herausgeschält hat, ist nicht zuletzt eine Arbeit über das „Framing“ der gegenwärtigen Demokratie und Gesellschaft. „Wir befinden uns in einer großen Auseinandersetzung, in der die prekären Errungenschaften der Demokratie angegriffen werden“, schreibt Thurnher. Diesen Angriff sieht er freilich nicht nur als Akt „von außen“ durch Autokratien wie China und Russland verwirklicht. Es gebe auch einen Angriff von innen, der nicht zuletzt mit dem Missbrauch (aber auch den Illusionen) von „freier Rede“ zu tun habe. Denn die Illusion der freien Rede sieht Thurnher im „Nebel“ um die digitalen Medien verwirklicht.

„Das Problem“, so Thurnher, „wurde in der digitalen Welt deswegen groß, weil die digitalen Medien von Anfang an gesetzlich als Plattformen behandelt wurden, das heißt als Medien in einer rechtsfreien Zone.“ Die unter dem „fatalen Liberalisierer“ Bill Clinton 1996 beschlossene „Section 230“ des Communications Decency Acts, eines Gesetzes gegen Pornografie im Netz, habe die digitalen Verbreiter von der Verantwortung für die von ihnen verbreiteten Inhalte entlastet: „Dies geschah explizit, um den Tech-Konzernen der USA einen globalen Wettbewerbsvorteil gegenüber analogen Medien zu verschaffen.“ Eine verblendete Linke habe die Gefahren zunächst nicht gesehen und „den Cyberspace als herrschaftsfreien Raum“ fantasiert, „in dem sie technikgestützt ihre neue kosmopolitische, egalitäre Gesellschaft ausbrüten würde“, konstatiert der Autor.
Die Illusion vom herrschaftsfreien, digitalen Raum
Die Desillusionierung sei beträchtlich gewesen, so Thurnher, habe sich doch der vermeintlich herrschaftsfreie Raum als Raum der Kapitalinteressen erwiesen. Die Silicon-Valley-Ideologie habe nicht die weltweite Befreiung, „sondern bloß die radikale Kommerzialisierung der globalen Kommunikation im Sinn“ gehabt. Man hätte sich, um die historische Erinnerung zu bemühen, natürlich auch an die Zeit erinnern dürfen, als gerade im Herzen Europas die frisch privatisierten Telekommunikationskonzerne den etablierten Medienhäusern vorbuchstabieren wollten, sie wären die neuen Informationszentralen und -verteiler.
Die Selbstschwächung des Staates in einer allgemeinen Liberalisierungsbegeisterung sieht Thurnher von einem Haupteffekt begleitet. Gesellschaftliche Gruppen hätten den Diskurs an sich gerissen. Im Feld der Linken habe man zur „Cancel Culture“ tendiert, die Rechte wiederum zu einem Free-Speech-Radikalismus. Die politische Lüge habe sich als Effekt in einer nicht mehr regulierbaren Öffentlichkeit tief im Diskurs eingenistet. Das unbekümmerte Lügen sei zu einem neuen Prinzip geworden, erinnert Thurnher an den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump wie die Politik mittels ‚Beinschab-Tools‘.
Öffentlichkeit: Chance zur Teilnahme als Kriterium
Erlangung und Erhalt der Macht seien über „die Geltung allgemeiner Regeln“ gestellt worden. Aber, so Thurnher ganz im Sinn von Habermas und dessen Grundidee einer Öffentlichkeit, die auf dem Aushandeln von Meinungen fundiert ist: „Demokratie beruht auf der Annahme, dass Dinge im öffentlichen Diskurs so erörtert werden, dass alle eine Chance haben, sich unvoreingenommen ihre Meinung zu bilden.“ Das sei gewiss „eine Fiktion“, so der Autor. Und man könnte einwenden, dass auch in der vordigitalen Welt gewisse Rahmenbedingungen für das Bilden von Öffentlichkeit nicht gerade günstig waren.

„Ein gewisses Maß an Selbstkontrolle, Selbstbegrenzung, ja Anstand“ sei notwendig, „sollen die demokratische Arena und ihre Institutionen funktionieren“. Würden diese Spielregeln missachtet, führe das zum Diktat des Stärkeren. Die neue Politik, die sich in diesem Rahmen verwirkliche und diesen zugleich schaffe, sei eigentlich durch eine „Bindungslosigkeit“ und einen „politischen Agnostizismus“ geprägt. Das Ergebnis: ein reiner Machiavellismus, also der Wille, in die Position des Stärkeren um jeden Preis zu kommen.
Habermas und das defensive Bewusstsein
Die Dynamiken eines freien Marktes haben für Habermas in breiten Teilen der Öffentlichkeit, wie er zuletzt schreibt, „ein eher defensives Bewusstsein hervorgerufen“, weil sich die Gesellschaft von dem technologisch und ökonomisch vorangetriebenen Wachstum und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Komplexität überwältigt gefühlt habe. Dieses Gefühl der Überwältigung träfe ja alle am Zustandekommen des Staates Beteiligten.
Ohne einen abwägenden, auch über sich selbst nachdenkenden Diskurs sei keine Demokratie zu haben, so Habermas: Je unterschiedlicher die sozialen Lebenslagen, die kulturellen Lebensformen und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft seien, desto mehr müsse das Fehlen eines bestehenden Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung wettgemacht werden. Auch für Habermas erschwert just das digitale Zeitalter diesen Prozess.
„Das Gewicht, das der Wille der Staatsbürger, also des Souveräns, auf die Entscheidung des politischen Systems insgesamt gewinnt, hängt nicht unwesentlich auch von der aufklärenden Qualität des Beitrages ab, den die Massenmedien zu dieser Meinungsbildung leisten“, ist Habermas immer noch überzeugt. Hier setzt die entscheidende Fragestellung für das Gelingen der Zukunft in Ländern wie Österreich, Deutschland und anderen Staaten, die sich frei nach Habermas als „entwickelte Demokratien“ sehen wollen, an. Österreich hätte demgemäß die Chance, sich mit neuen Öffentlichkeiten tatsächlich auseinanderzusetzen, anstatt eine Message-Politik für angenommene Öffentlichkeiten zu gestalten.
Die Erhebung, wer die tatsächlichen Gegenüber und Adressaten von Politik sind, scheint nicht zuletzt im Schatten der CoV-Pandemie abhandengekommen zu sein. Wahltagsbefragungen versuchen in Teilen, der Stimmung „auf dem Land“ nachzubuchstabieren. Dass aber die neuen digitalen Räume, die keine Medien im herkömmlichen Sinn sind, Räume darstellen, in denen Datenüberschüsse erzielt werden und somit auch Wissen über die Gesellschaft produzieren, ist noch nicht hinlänglich in den Erhebungsfokus gekommen.
Eigentlich müsste die Diskussion gegenwärtig da beginnen, wo die Bücher von Thurnher (bei aller Abrechnung) und Habermas mit einem Fragezeichen enden. Und hier stünde der Auftrag an die Medienpolitik, für das Land Räume der Verbindlichkeit von gesellschaftlichem Wissen zu schaffen.
Gerald Heidegger (Text), ORF Topos
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