Mozarts „Netflix-Buster“
Mozarts „Netflix-Buster“ teilenKulturBühneMusik
11. März 2023, 17:54 Uhr
War es das unerhörte Revolutionsstück, weil es allen Ständen gleiche Rechte zusprach? Oder ist es genau das Stück für unsere an digitalen Unterhaltungsplattformen geschulte Zeit, eine rasche Achterbahn zwischen Drama und Komödie, Eifersucht und Eitelkeit? Regisseur Barrie Kosky deutet für die Wiener Staatsoper Mozarts „Le Nozze di Figaro“ jedenfalls nicht als Gesellschaftsaufstand – sondern als Stück genau für die Gesellschaft der Gegenwart, obwohl das Dekor sehr klassisch wirkt.Gerald Heidegger
Ist es das Revolutionsstück, das die Geschehnisse von Paris 1789 drei Jahre im Vorhinein vorausahnte? Ist es das große Stück Aufklärung, das die Heirat aus Liebe gegen alle Verhaltensnormen des Adels des 18. Jahrhunderts stellte? Oder ist es einfach eine große Commédie humaine, in der alle Regungen des zwischenmenschlichen Lebens im Eiltempo ausgestellt werden, ohne dass darin Wertungen oder Moralismen enthalten sind? Geht man nach dem australischen Regisseur Barrie Kosky, dann ist die Oper aller Opern, „La Nozze di Figaro“, drittes, wie der Regisseur im Vorfeld sagte: „Es gibt drei große geniale Gestalter des menschlichen Dramas, die nie werten, aber immer das Lachen auch mit dem Weinen sehen und die Tragödie auch immer im Licht der Komödie: Das ist Shakespeare, das sind Mozart und Da Ponte und das ist schließlich Tschechow.“ Alle drei Autoren seien in der Lage, die Abgründe des menschlichen Lebens in ein Stück zu packen – und sie wüssten, dass alles, was „an einem Tag wie das Glück aussieht, am anderen Tag schon wieder eine andere Wendung nehmen kann.“
Hör- und Seh-Hinweise
ORF 2 zeigt am Freitag, 17.3., 21.20 Uhr, live-zeitversetzt, die gefeierte Inszenierung von „Le Nozze di Figaro“ aus der Wiener Staatsoper.
„La Nozze die Figaro“ komplett zum Nachhören in Ö1

Und so macht der Regisseur, wie man ab Samstag in der neuen Inszenierung dieses Klassikers im Repertoire der Wiener Staatsoper erleben kann, aus dem Haus auf dem Ring ein „House of Kosky“, in der dieser Klassiker funktioniert wie eine Netflix-Serie. Und in die der Guckkasten auf der Bühne wie ein Zitat hineingeschoben wird. Alles sieht hier sehr klassisch aus – und doch ist dauernd ein Spiel im Spiel, auch eines mit den Konventionen von Theater, aber auch von modernen Serienformaten.00:10Dieses Video ist nicht mehr verfügbar
„Le Nozze di Figaro“: Rasanter Liebesreigen
Die Besetzung des neuen Wiener „Figaro“
Graf Almaviva: Andrè Schuen
Gräfin Almaviva: Hanna-Elisabeth Müller
Susanna: Maria Nazarova (eingesprungen für die erkrankte Ying Fang)
Figaro: Peter Kellner
Cherubino: Patricia Nolz
Bartolo: Stefan Cerny
Basilio: Josh Lovell
Antonio: Wolfgang Bankl
Barbarina: Johanna Wallroth
Musikalische Leitung: Philippe Jordan
Inszenierung: Barrie Kosky
Bühne: Rufus Didwiszus
Kostüme: Victoria Behr
Licht: Franck Evin
Bühnenbildassistenz: Jan Freese
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Bogdan Roščić über die Wurzeln von Mozarts „Figaro“
Eine Oper wie ein Serienformat
Würde man die Oper in zehn Kapitel statt den darin stattfindenden Akten zerteilen, man würde in der Beschreibung dieser zehn Kapitel so etwas wie die Punchlines einer Miniserie für Digitalplattformen erkennen können. Da will der bürgerliche Figaro seine Susanna heiraten – doch die besondere Lage des Zimmers der beiden gleich neben den Gemächern des Grafen erregt Verdacht. Das „Recht der ersten Nacht“, das der Graf eigentlich abschaffte, soll just hier wiederum zum Einsatz kommen.
Das war die Premiere:
Die Premiere am Wochenende wurde zum großen Erfolg – und das, obwohl die als Susanna besetzte Sopranistin Ying Fang nur wenige Stunden vor der Vorstellung einen Stimmbandblutung erlitt und nicht einen Ton singen konnte. Gerettet wurde der Abend schließlich von Einspringerin Maria Nazarova, die den musikalischen Part der Rolle bravourös aus dem Orchestergraben bestritt – während Fang die anspruchsvolle schauspielerische Arbeit inklusive stummer, lippensynchroner Mimik ablieferte. Mehr zur Kritik von Sophia Felbermair in ORF.at.

Und mit einer Gegenverschwörung und ausreichend Personal sollen diese Absichten des Grafen aufgedeckt werden. Die Handlungen dieses Spiels von Hinterhalt, Überlistung, Eifersucht und vermeintlicher Ehre sind mittlerweile hinlänglich bekannt – und doch wird in Wien diese Oper so erzählt, dass sie sich mit neuer Spannung auflädt, die nicht zuletzt über die Musik Mozarts getragen wird.

Man darf keine Angst haben, ein Lächeln in den Tränen zu finden und Tränen im Lächeln.
Regisseur Koskys Leitsatz
Mozart, der mit seinem Librettisten Lorenzo Da Ponte diese Oper in gerade einmal sechs Wochen in einer raschen Schreib- und Komponierarbeit auf der Vorlage des Stücks „La Folle Journée ou le Mariage de Figaro“ („Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro“) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais aus dem Jahr 1778 erarbeitet hatte, dachte in dem, was Filmregisseurinnen und -regisseure so gerne Kadrierung nennen. Eigentlich hatte er die optischen Szenen im Kopf – und komponierte schon zum Ende des zweiten Aktes jenes berühmte Finale, das zum Anfangsduett ständig Personal mit auf die Bühne bringt, bis sich alle Konflikte und Spannungen als Gesamtensemblenummer entladen. Doch da man eben erst am Ende des zweiten Aktes ist, kann das dann doch nur ein Cliffhanger für die weiteren zwei Akte sein.

Unterteilte man diese Oper, die sich aus einer Ouvertüre und 29 Musiknummern zusammensetzt, in weitere Einheiten, könnte man statt der Akte auch die Perspektivierung des Geschehens auf die verschiedenen Charaktere umwälzen, wie es jedes moderne Serienformat tut. Denn auch bei Kosky sieht die Oper aus der Perspektive der Cherubino anders aus als etwa beim Grafen Almaviva.01:37
Dirigent Philippe Jordan über die musikalische Konzeption
Die 30 Musiknummern der „Nozze di Figaro“
Erster Akt
Nr. 1. Duettino (Figaro, Susanna): „Cinque… dieci… venti… trenta…“ – „Fünfe, Zehne, Zwanzig, Dreißig“ (Szene 1)
Nr. 2. Duettino (Figaro, Susanna): „Se a caso madama la notte ti chiama“ – „Sollt einstens die Gräfinn zur Nachtzeit dir schellen“ (Szene 1)
Nr. 3. Cavatine (Figaro): „Se vuol ballare Signor Contino“ – „Will einst das Gräflein ein Tänzchen wagen“ (Szene 2)
Nr. 4. Arie (Bartolo): „La vendetta, oh, la vendetta“ – „Süsse Rache, o süsse Rache! Du gewährest hohe Freuden“ (Szene 3)
Nr. 5. Duettino (Marcellina, Susanna): „Via, resti servita, Madama brillante“ – „Nur vorwärts, ich bitte, Sie Muster von Schönheit“ (Szene 4)
Nr. 6. Arie (Cherubino): „Non so più cosa son, cosa faccio“ – „Neue Freuden. Neue Schmerzen“ (Szene 5)
Nr. 7. Terzett (Graf, Basilio, Susanna): „Cosa sento! Tosto andate“ – „Wie? Was hör ich! Unverzüglich geh“ (Szene 7)
Nr. 8 und Nr. 9. Chor: „Giovani liete, fiori spargete“ – „Muntere Jugend, streue ihm Blumen!“ (Szene 8)
Nr. 10. Arie (Figaro): „Non più andrai, farfallone amoroso“ – „Dort vergiss leises Flehen, süsses Wimmern“ (Szene 8)
Zweiter Akt
Nr. 11. Cavatine (Gräfin): „Porgi, amor, qualche ristoro“ – „Heilge Quelle reiner Triebe“ (Szene 1)
Nr. 12. Arietta (Cherubino): „Voi che sapete che cosa è amor“ – „Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt“ (Szene 3)
Nr. 13. Arie (Susanna): „Venite… inginocchiatevi“ – „Komm näher, kniee hin vor mir“ (Szene 3)
Nr. 14. Terzett (Graf, Gräfin, Susanna): „Susanna, or via, sortite“ – „Nun, nun! wird’s bald geschehen? Susanne, komm heraus!“ (Szene 6)
Nr. 15. Duettino (Susanna, Cherubino): „Aprite, presto, aprite!“ – „Geschwind die Thür geöfnet!“ (Szene 7)
Nr. 16. Finale: „Esci, ormai, garzon malnato!“ – „Komm heraus, verworfner Knabe!“ (Szene 8)
Dritter Akt
Nr. 17. Duettino (Graf, Susanna): „Crudel! Perché finora farmi languir così?“ – „So lang hab ich geschmachtet“ (Szene 2)
Nr. 18. Rezitativ und Arie (Graf): „Hai già vinta la causa!“ – „Der Prozes schon gewonnen?“
„Vedrò, mentr’io sospiro“ – „Ich soll ein Glück entbehren“ (Szene 4)
Nr. 19. Sextett: „Riconosci in questo amplesso“ – „Lass mein liebes Kind dich nennen!“ (Szene 5)
Nr. 20. Rezitativ und Arie (Gräfin): „E Susanna non vien!“ – „Und Susanne kommt nicht?“
„Dove sono i bei momenti“ – „Nur zu flüchtig bist du verschwunden“ (Szene 8)
Nr. 21. Duettino (Gräfin, Susanna): „Che soave zeffiretto“ – „Wenn die sanften Abendlüfte“ (Szene 10)
Nr. 22. Chor: „Ricevete, o padroncina“ – „Gnädge Gräfinn, diese Rosen“ (Szene 11)
Nr. 23. Finale: „Ecco la marcia… andiamo“ – „Lasst uns marschiren! In Ordnung!“ (Szene 13)
Chor: „Amanti costanti, seguaci d’onor“ – „Ihr treuen Geliebten, mit Kränzen geschmückt“ (Szene 14)
Vierter Akt
Nr. 24. Cavatine (Barbarina): „L’ho perduta… me meschina!“ – „Unglückseelge, kleine Nadel“ (Szene 1)
Nr. 25. Arie (Marcellina): „Il capro e la capretta“ – „Es knüpfen auf den Fluren“ (Szene 4)*
Nr. 26. Arie (Basilio): „In quegli anni in cui val poco“ – „In den Jahren, wo die Stimme“ (Szene 7)*
Nr. 27. Rezitativ und Arie (Figaro): „Tutto è disposto“ – „Alles ist richtig“
„Aprite un po’ quegli occhi“ – „Ach! öfnet eure Augen“ (Szene 8)
Nr. 28. Rezitativ und Arie (Susanna): „Giunse alfin il momento“ – „Endlich naht sich die Stunde“
„Deh vieni non tardar, o gioia bella“ – „O säume länger nicht, geliebte Seele!“ (Szene 10)
Nr. 29. Finale: „Pian pianin le andrò più presso“ – „Still! nur still! ich will mich nähern“ (Szene 11)
* Nr. 25 und 26 wurden wie meist üblich auch diesmal in Wien gestrichen.
Eine Oper als ständige Begleiterin
„Ich lebe schon eine lange Zeit mit dieser Oper“, erzählte Regisseur Kosky im Vorfeld der Premiere bei einer Matinee der Staatsoper im Gespräch mit Staatsopernchef Bogdan Roščić. Eigentlich sei der „Figaro“ eine Oper, die man alle zehn Jahre als Regisseur machen müsse. Die Genialität dieses Werks bestehe gerade in der Verzahnung von dramaturgischen und musikkompositorischen Elementen, ohne dass je eine Form von Langweile oder Durchhänger entstünde. „‚Nozze‘ ist ein Geschenk für einen Regisseur“, so Kosky, der wieder an seinen Leitsatz erinnert: „Man darf keine Angst haben, ein Lächeln in den Tränen zu finden und Tränen im Lächeln.“ Mozart fällte kein Urteil über die Charaktere, so der Regisseur, und fügt hinzu: „Er präsentiert die Welt als Mikrokosmos, der mehr über uns zu sagen hat als ein großes Drama.“ So wechselt er rasch vom Schmerzhaften zum Lachen: „‚Figaro‘ ist oft unerträglich, doch am Ende kommt diese wunderschöne Musik, die alles überwindet, und zugleich weiß man, dass es am nächsten Tag schon wieder ganz anders sein könnte“, so der Regisseur, der es gerade als die große Stärke des Stücks ansieht, dass man nie wisse, ob man sich gerade in einer Komödie oder in einer Tragödie befinde.
Dass Kosky, ehemals Chef der Komischen Oper in Berlin, die Operette liebe, ist gerade für die Umsetzung dieses Stücks auch richtungsweisend. Die Anlage des „Figaro“ verweist in gewisser Weise tief auf die soziale Welt der Operette: Alle Stände sind demnach in der Lage, die großen menschlichen Dramen mitzuerleben und damit auch mitzuspielen. Und so ist der „Figaro“ eben nicht ein Stück über die Heirat aus Liebe des neu aufkommenden Bürgertums, sondern eine Arbeit über die Emanzipation des Bürgertums hinauf, alle Fragen des Lebens auch auf der Bühne zu den eigenen Fragen erklären zu dürfen.Ö1 Beitrag zur Neuinszenierungzur Website
Dass das Stück, das 1786 auf dem Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde und den Umweg des Prager Erfolgs brauchte, um sich auch hierzulande durchsetzen zu können, eine entschärfte Version von Beaumarchais sei, wollte schon der Opernkenner Ulrich Schreiber nie gelten lassen: In Mozarts Oper, so Schreiber, würden „keineswegs, wie lange behauptet, die politischen Implikationen des Schauspiels verdrängt, sondern in einer musikspezifischen Weise ausgesprochen“.
Gerald Heidegger (Text), ORF Topos, Florian Gebauer (Video)
Links:
- Der neue „Figaro“ an der Wiener Staatsoper
- Die gesamte Matinee zum „Figaro“ aus der Staatsoper
- Ö1-Morgenjournal über „Le Nozze di Figaro“
v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)
QELLE : ORF.AT TOPOS