Kinorausch bei der Diagonale
Kinorausch bei der Diagonale teilenKritikFilmÖsterreich
Online seit gestern, 10:39 Uhr
Mit einer immerwährenden Party in dem Film „Das Tier im Dschungel“ wird die diesjährige Diagonale am Dienstagabend eröffnet. Es ist die letzte Festivalausgabe unter der Intendanz von Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber und ein Treffen der vielfältigen, durchaus auch streitbaren österreichischen Filmszene. Das Festival findet bis Sonntag in Graz statt.
Eine rauschhafte, surreale Reise durch ein Vierteljahrhundert Clubkultur, von den späten Siebzigern bis in die frühen Nullerjahre: Der Diagonale-Eröffnungsfilm „Das Tier im Dschungel“ von Patric Chiha ist eine Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Henry James und begleitet die Hauptfiguren May und John, die durch ein Geheimnis aneinander gekettet sind. Die beiden treffen sich jahrzehntelang jeden Samstag in einem Pariser Nachtclub und isolieren sich immer mehr von der pulsierenden Außenwelt, während sie gemeinsam auf ein namenloses Ereignis warten.
Währenddessen ändern sich Moden und Musikstile, politische und gesellschaftliche Ereignisse überschlagen sich. „Selten gab sich das österreichische Kino mondäner, waren sich Kino-, Pop- und Clubkultur vor dem Hintergrund der immer wieder einbrechenden’ kurzen Geschichte des 20. Jahrhunderts näher“, so die Intendanten Höglinger und Schernhuber über den Film.
Eleganz mit Melancholie
„‚Das Tier im Dschungel‘ ist ein melancholischer, wunderschöner Film von größter Eleganz und faszinierender Anmut. Das ist nicht nur in Zeiten wie diesen ein wahrer Glücksfall.“ Mit einem „der Welt zugewandten Programm“, so die beiden, startet das diesjährige Festival, gezeigt wird am Eröffnungsabend zudem noch der Kurzfilm „NYC-RGB“ von Viktoria Schmid, und bei der Eröffnung wird außerdem der Große Diagonale-Schauspielpreis an Margarethe Tiesel („Paradies: Liebe“) verliehen.

Für Schernhuber und Höglinger hat der Eröffnungsabend dieses Jahr spezielle Bedeutung, ist es doch die letzte Festivalausgabe, die die beiden verantworten, bevor im Juni Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh die Intendanz zunächst bis 2027 übernehmen. Insgesamt werden an den sechs Festivaltagen 115 österreichische Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme sowie Experimentalfilme gezeigt, ein „widersprüchliches und emotionales Festival“, wie Schernhuber verspricht.
Das liegt nicht nur an den Filmen, diese Widersprüchlichkeit und Emotionalität hat auch viel mit den Debatten und Umbrüchen zu tun, die die Branche seit dem vergangenen Jahr teils öffentlich gebeutelt haben, etwa die „#MeToo“-Vorwürfe an Filmsets und in der Ausbildung, die Produktionsbedingungen von Spielfilmen, die Sicherheit von Kindern bei Dreharbeiten und vieles mehr. Begleitende Veranstaltungen und Diskussionen wie etwa zum Jahresbericht der Meldestelle #we_do! und Podien initiiert von FC Gloria sollen eine Weiterentwicklung fördern.

Finale mit Glamour
Seit 2016 waren Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber gemeinsam für die Intendanz der Diagonale verantwortlich.
Opulenz und Eskalation
Das Filmprogramm erlaubt einen aktuellen Überblick über das österreichische Filmschaffen, im Wettbewerb läuft unter anderem ein Rückblick auf bereits gestartete Langfilme wie Ruth Beckermanns „Die Mutzenbacher“ oder Adrian Goigingers „Der Fuchs“. Mit Ulrich Seidls „Sparta“ und Marie Kreutzers Sisi-Neuverortung „Corsage“ laufen auch zwei Filme im Wettbewerb, die im vergangenen Jahr medial im Brennpunkt standen. Zugleich feiert die Diagonale Österreich-Premieren wie etwa von Katharina Mücksteins „Feminism WTF“ und zeigt Nikolaus Geyrhalters „Matter out of Place“ zum Thema Müll und Abfallwirtschaft, der am 21. April ins Kino kommt.

Eine weitere Premiere ist Dieter Berners opulenter Film „Alma und Oskar“ nach dem Roman „Die Windsbraut“ von Hilde Berger. Emily Cox spielt darin die seit Kurzem verwitwete Alma Mahler, die im Frühjahr 1912 den jungen Maler Oskar Kokoschka (Valentin Postlmayr) verführt, im gesellschaftlichen Umfeld eines Wien, das gesättigt ist von Skandalen und Umbrüchen. Was für die Komponistin, die endlich aus dem Schatten ihres toten Mannes Gustav Mahler treten will, nicht viel mehr ist als ein erotisches Abenteuer, nimmt Kokoschka bitter ernst.
Sein Besitzdenken führt die Beziehung binnen kurzer Zeit an den Abgrund, bis hin zur berüchtigten lebensgroßen Alma-Puppe, die er sich nach der Trennung anfertigen lässt. Mit kaum verhohlenem Humor setzen Berner und Berger dem Pathos Kokoschkas die lustbetonte Nonchalance von Alma Mahler entgegen, ein wilder Film, der in seinen braven Momenten etwas schwächelt, in der Inszenierung von Exzess dafür immer wieder sehr lustig ist.
Wien von oben und von unten
In der Dokumentarfilmschiene stehen unter anderem zwei thematisch unterschiedliche Wienporträts am Programm: Bianca Geissingers „27 Storeys“ handelt vom legendären, für seine hohe Wohnzufriedenheit bekannten Wiener Wohnpark Alterlaa. Anstatt auf ein nüchternes Architekturporträt setzt die selbst in Alterlaa geborene Geissinger auf Skurrilität und lässt es auf dem Dachterrassenschwimmbad oder in den engen holzvertäfelten Hobbyräumen gehörig menscheln.

Von Philipp Jedicke wiederum kommt das Wiener Popszeneporträt „Vienna Calling“, bei dem er ein breites Spektrum der hiesigen Acts vor der Kamera versammelt, von Nino aus Wien über Voodoo Jürgens, Kerosin95, EsRap bis zu Steffi Sargnargel, um so etwas wie die Wiener Musikseele durchzudeklinieren. Am Wien-Klischeesackerl fand der deutsche Regisseur dabei offenkundig Gefallen: Nino sinniert beschwipst im Beisl, ein Kumpan von Lydia Haider träumt von der großen Sause im Kanalsystem à la „Dritter Mann“, und mit Jürgens geht’s zum Peepshowkonzert und, unvermeidlich, auf den Zentralfriedhof. Stimmung: ja, tiefere Einblicke: eher wenige.
Klassenkrampf auf dem Mietmarkt
Diagonale-Schauspielpreisträgerin Tiesel ist in gleich zwei Filmen zu sehen, als verständnisvolle Oma in der U-Bahn-Romanze „Sterne unter der Stadt“ und als das genaue Gegenteil in „Die Vermieterin“. In der No-Budget-Produktion unter der Regie von Sebastian Brauneis möchte die junge Schauspielerin Johanna (überzeugend: Marlene Hauser) nur ein wenig Ruhe in ihren Alltag zwischen prekären Engagements und der bröselnden Beziehung mit ihrem Freund Simon bringen, idealerweise in einer leistbaren und hellen Mietwohnung.
Mit diesem Wunsch beginnen die Probleme aber erst so richtig, gerät sie doch an die frisch verwitwete Vermieterin Frau Schrankinger (Tiesel), die mit Unterstützung des Maklers Mario Graf (extra windig: Lukas Watzl) und des Rechtsanwalts Dr. Winter (Thomas Frank) ihre Mieterin über den Tisch zu ziehen versucht. Brauneis ist eine Groteske über die Leiden von Mieterinnen und die Freuden der Immobilienbesitzerinnen gelungen, die sich erfrischend wenig ernst nimmt.
ORF auf der Diagonale
Mit 35 Produktionen ist der ORF bei der diesjährigen Diagonale vertreten, darunter 24 im Rahmen des Film-/Fernseh-Abkommens kofinanzierte Kinofilme, zwei TV-Filme und eine TV-Serie, sieben Produktionen aus dem ORF-Archiv sowie eine weitere von ORF III.
Die Kinospielfilme sind „Böse Spiele – Rimini Sparta“, „Breaking the Ice“, „Corsage“, „Das finstere Tal“, „Der Fuchs“, „Eismayer“, „Family Dinner“, „Heimsuchung“, „Mermaids don’t cry“, „Rubikon“, „Sparta“, „Sterne unter der Stadt“; die Kinodokumentarfilme „… Ned, Tassot, Yossot …“, „27 Storeys“, „A Boy’s Life“, „Dein Leben – Mein Leben“, „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“, „Feminism WTF“, „Lass mich fliegen“, „Matter out of Place“, „Souls of a river“, „Stams“, „Vera“ und „Vienna Calling“.
Folgende ORF-TV-Produktionen feiern Diagonale-Premieren: Salzburger Landkrimi „Dunkle Wasser“, Tiroler Landkrimi „Der Tote in der Schlucht“ und das Serienspecial „Schnee“.
Aus dem ORF-Archiv laufen „Asyl – Szenen aus einem Milieu“, „Atemnot“, „Erz Schmerz“, „Frauen von G (Gaming)“, „Auf dem Weg nach Hollywood“, „SS-Nr …“ und „Die Vertreibung aus dem Paradies“.
„Kleine Fossilien, das sind meine Lieblinge“
Eines der größten naturhistorischen Museen der Welt als Arbeitsplatz zeigt Joerg Burgers Dokumentarfilm „Archiv der Zukunft“. Burger, der als Kameramann schon an Johannes Holzhausens Doku „Das große Museum“ (2014) über das gegenüberliegende Kunsthistorische Museum beteiligt war, begleitet die Forscherinnen und Forscher im Naturhistorischen Museum Wien bei ihrem Arbeitsalltag. Dazu gehört etwa das Ausstopfen und Aufschneiden von Tieren und das Sammeln, Archivieren, Planen und Beobachten von Dingen und Vorgängen auf der Erde und im All.

Der Film erlaubt einen Blick hinter die Kulissen und macht die Begeisterung für die Arbeit erlebbar, etwa wenn eine Mitarbeiterin schwärmt: „Kleine Fossilien, das sind meine Lieblinge.“ Mit lebenden Tieren befasst sich dafür der Essayfilm „Zoo Lock Down“ von Andreas Horvath: Während der Großteil Österreichs 2020 im ersten Lockdown ausharrte und sich mit Kinderbetreuung, Existenzangst oder Brotbacken auseinandersetzte, nutzte der Salzburger Regisseur die Gelegenheit, in den Zoo zu gehen und völlig ungestört tage- und wochenlang Tiere zu beobachten, mit Kamera, Mikrofon und sehr viel Zeit.
Entspannte Raubkatzen, nervöse rote Pandas, Nashörner in intimen Situationen, und, fragloser Höhepunkt des Films, zutrauliche Lemuren: Horvaths Film reflektiert das Dasein der Tiere in ihren Gehegen, die üblicherweise wie Bühnendarsteller Wildnis repräsentieren, deren Dasein ohne Publikum aber auf einmal eine andere Bedeutung gewinnt. Allein durch Perspektive, Schnitt und pointierten Musikeinsatz entstehen pfiffige Miniaturen, kleine Erzählungen und große Beobachtungen, die ein Panorama des Salzburger Zoos und seines Alltags in Abwesenheit der Besuchermassen ergeben.
„Magic Marisa“ und europäische Kulturgeschichte
Das Programm der Reihe „Zur Person“ gilt diesmal dem österreichisch-serbischen Filmemacher und Drehbuchautor Goran Rebic, über den es im Katalog heißt: „Rebics Arbeiten sind Memorabilien, die Erinnerungen mit Blick auf die Zukunft wachhalten.“ Immer wieder befasst sich Rebic in seinen Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen mit Arbeitsmigration, mit dem Zerfall Jugoslawiens und mit der Donau als Lebensader und findet unterschiedliche Perspektiven auf europäische Kulturgeschichte.
Im gemeinsam mit dem Filmarchiv Austria, dem Österreichischen Filmmuseum und dem ORF kuratierten Spezialprogramm „Finale“ blickt die Diagonale auf das Verhältnis des österreichischen Films zu Endzeit und Apokalypse, hier gibt es unter anderem ein Wiedersehen der Generationenstudie „Atemnot“ von Käthe Kratz (1984).
Die Schiene „In Reverenz“ widmet sich der widersprüchlichen Grazer Filmschauspielerin Marisa Mell (1939–1992), von der vier selten gezeigte Filme laufen. Begleitend ist im Graz Museum die Ausstellung „Magic Marisa“ zu sehen. Die Preisverleihungen finden am 26. März im Grazer Orpheum statt. Neu ist ein Preis für die beste Filmkomposition.
Florian Baranyi, Leonie Markovics, Magdalena Miedl, Paula Pfoser, alle ORF Topos, und Sonia Neufeld, ORF.at (Text und Videokritik), Magdalena Miedl (Gestaltung), ORF Topos, Annika Sophie Müller (Schnitt), für ORF Topos
Sendungshinweis
KulturMontag, 20.03., 22.29 Uhr
Links:
v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)
QELLE : ORF.AT