90 Jahre Ausschaltung des Parlaments

Das Endspiel der Demokratie in Österreich

Das Endspiel der Demokratie in Österreich teilenGeschichteZeitgeschichtePolitik

Online seit heute, 06:00 Uhr

90 Jahre nach dem Staatsstreich des Engelbert Dollfuß scheint das österreichische Parlament die Schatten von damals abgeschüttelt zu haben. Jahrzehntelang haben sich ÖVP und SPÖ nach 1945 darum bemüht, dass politische Auseinandersetzungen nie mehr wieder so hochkochen können wie in der Ersten Republik. Das Parlament wirkt jetzt – Anfang März 2023 – nach fünfjähriger Sanierung und Modernisierung wie ein robuster Demokratiepalast. Man könnte meinen, die Zweite Republik hat aus der Tragödie von einst gelernt.Georg Ransmayr, Gerald Heidegger

Es ist weniger die Geschichte, sondern es sind eher die diversen Politskandale, die auf das Ansehen von Demokratie und Parlamentarismus in Österreich drücken. Immer mehr Wählerinnen und Wähler liebäugeln mit demokratischen Alternativmodellen und autoritärem Gedankengut, wie eine exklusive Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SORA im Auftrag der ORF-Zeitgeschichte-Redaktion „Menschen & Mächte“ zeigt: Der komprimierte Krisenstress durch Coronavirus-Pandemie, Inflation, Ukraine-Krieg und Klimabedrohung beflügelt bei gut 20 Prozent der Menschen den diffusen Wunsch nach einem starken Mann, der durchgreifen soll.

Mit Blick auf die Ausschaltung des österreichischen Parlaments im Jahr 1933 drängt sich die Frage nach Parallelen zwischen dem krisengeschüttelten Zeitgeist von anno dazumal und den aktuellen politischen Verwerfungen auf. Die naheliegende Analogie: Heutzutage zweifeln erneut viele Menschen daran, dass demokratische Parlamente genug Problemlösungskraft besitzen. Anders gefragt: Beflügeln Reformstau und Politverdruss heute wieder den Wunsch nach einem starken Mann – oder einer starken Frau?

„Demokratieunzufrieden, nicht demokratiemüde“

„Ich bin mir nicht so sicher, ob die Menschen wirklich demokratiemüde sind. Sie sind demokratieunzufrieden“, sagt dazu die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle. „Viele sind vor allem unzufrieden mit den schleppenden Ergebnissen, die die Demokratie in ihren Augen hervorbringt.“ Der Wirtschaftshistoriker Ernst Bruckmüller ergänzt: „Vielleicht sind auch viele Menschen ein bisschen verwöhnt. Und jetzt, wo es mehr Probleme gibt als vor 20 oder 30 Jahren, sind alle gleich entsetzt und rufen nach dem starken Mann. Von dem wir allerdings aus der Geschichte wissen: Er kann es auch nicht besser!“

Es sind aber auch neuartige Bedrohungen aufgetaucht, die in früheren Jahren psychologisch keine Rolle gespielt haben. Eine davon: der Sturm von bewaffneten Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington Anfang 2021. Mit dem Ziel, nach der Wahlniederlage des US-Präsidenten einen Staatsstreich anzuzetteln. Szenen, die man in einer westlichen Demokratie mit langer Tradition nicht für möglich gehalten hätte.

  • Picturedesk.com/Austrian Archives/brandstaetter imagesArchivbild zeigt Karl Renner bei einer RedeKarl Renner, österreichischer Nationalrat, Nationalratspräsident und späterer Bundespräsident, hier bei seiner Festrede zur Republikfeier 1931
  • Picturedesk.comArchivaufnahme aus dem Parlament in Wien 1933Geschäftsordnungskrise des Parlaments: Auf der Ministerbank v. l.: Staatssekretär Fey, Handelsminister Jakoncig, Bundeskanzler Dollfuß, Finanzminister Weidenhoffer; am Rednerpult Abgeordneter König, aufgenommen am 4.3.1933
  • Picturedesk.com/ÖNB-Bildarchiv/Albert HilscherArchivaufnahme des Christlich-sozialen Klubs im Parlament mit VaugoinZusammentreffen des christlich-sozialen Klubs im Parlament am 15. März 1933
  • Picturedesk.com/SZ-Photo/ScherlArchivbild zeigt Bundeskanzler Engelbert Dollfuß bei einer Rede vor einer MenschenmengeDer österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß spricht vor einer Menschenmenge, 1932
  • Picturedesk.com/Austrian Archives/brandstaetter imagesArchivbild zeigt Panzerautomobile vor dem Parlament in Wien Panzerautomobile auf der Ringstraße in Wien am 15. März 1933, dem Tag der „Selbstausschaltung“ des österreichischen Parlaments
  • Picturedesk.com/ÖNB-Bildarchiv/Albert HilscherArchivbild zeigt Polizei vor dem Parlament in Wien 1933Polizei vor dem Parlament am 15.3.1933
  • Picturedesk.com/Austrian Archives/brandstaetter imagesArchivaufnahme zeigt Polizisten mit Gewehren auf dem HeldenplatzWien: Polizeieinheiten auf dem Heldenplatz am 15. März 1933

Diese Bedrohungslage könnte auf die Stimmung der österreichische Bevölkerung abgefärbt haben. Denn 25 Prozent sehen laut SORA-Umfrage in einem Sturm auf das Parlament in Wien eine große Gefahr. Als noch größer wird eine andere Bedrohung eingestuft: 32 Prozent befürchten, dass eine radikalisierte Gruppe oder eine Partei versuchen könnte, den Rechtsstaat zu demontieren.

Wenn sich niemand mehr engagieren will

Eine Gefahr, die der Soziologe Herfried Münkler in seinem Buch „Die Zukunft der Demokratie“ angesprochen hat, schimmert in der aktuellen Stimmungslage ebenfalls durch. 31 Prozent haben die Sorge, dass Extremisten ans Ruder kommen könnten, weil sich niemand mehr politisch engagieren will. Womit Bürgerinnen und Bürger als „Politikkonsumenten“ den Gegnern der Demokratie zu viel Raum geben würden.

Sind die Zustände von 1933 aber mit den modernen Ängsten und der zunehmenden Kritik am Politsystem wirklich vergleichbar? Heutzutage wird der Politik in schnellen Rundumschlägen die Lösungskompetenz abgesprochen, auch bei Fragen, die national nicht mehr zu lösen sind. Der Demokratie wird vorgehalten, sie würde bei der Krisenbewältigung versagen. In Wirtschaftskreisen wird debattiert, ob die Europäische Union langfristig gegen die diktatorische Kommandoökonomie Chinas eine Chance hat.

Historische Parallelen auf dem Prüfstand

Wer genauer hinsieht, merkt jedoch, dass die Unterschiede zwischen den 1930er Jahren und der aktuellen Situation gravierend sind: Damals war die Gewaltbereitschaft hoch, weil nach dem Ersten Weltkrieg die Militarisierung in der Gesellschaft fortgeführt wurde. Von paramilitärischen Verbänden kann in Österreich heute keine Rede sein. Auch die Inflation war damals weit schlimmer als heute. Darüber hinaus stemmen sich Sozialstaaten reflexartig gegen große gesellschaftliche Verwerfungen, auch wenn sie sich dafür schwer verschulden müssen. Finanzielle Notlagen werden bis zu einem gewissen Grad abgefedert. In den 1930er Jahren standen solche Gegenmaßnahmen nicht zur Diskussion. Gespart wurde ohne Rücksicht. Langzeitarbeitslose wurden nach relativ kurzer Zeit „ausgesteuert“ und mussten ohne jede finanzielle Unterstützung über die Runden kommen.

Archivbild zeigt Polizei vor dem Parlament in Wien 1933
Polizei vor dem Parlament am 15.3.1933

Die autoritären Neigungen, die heutzutage messbar werden, würden daher unter anderen Vorzeichen entstehen, meint Politikwissenschaftlerin Stainer-Hämmerle: „Unsere Demokratie ist für viele selbstverständlich geworden. Diese Selbstverständlichkeit verleitet viele Menschen dazu, mit alternativen Modellen zu flirten.“ Das heißt aber nicht automatisch, dass nur mit autoritärem Gedankengut geliebäugelt wird. Viele, die mit den derzeitigen politischen Verhältnissen unzufrieden sind oder über Verbesserungen nachdenken, wollen nicht weniger, sondern mehr Demokratie. 63 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher möchten mehr Mitbestimmung in Form einer direkteren Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz. 36 Prozent würden sich statt der aktuellen Parteiendemokratie eine überparteiliche Expertenregierung der besten Köpfe nach dem Vorbild der Regierung Brigitte Bierlein wünschen. Beobachter sehen darin den Wunsch nach „unpolitischer Politik“ ohne Parteienhickhack – zumal 57 Prozent der Befragten die Nationalratsabgeordneten für „wenig vernünftig“ halten.

Zu viel Show und zu wenig Tempo

Anders ist die Stimmungslage, wenn es um den Klimaschutz geht. Hier blitzt ein außerparlamentarischer und auch fragwürdiger Impuls auf, der von einem vermeintlich „guten Zweck“ getrieben sein dürfte: 17 Prozent der Befragten hätten gern eine Klimaschutzregierung, die ohne Parlament handeln darf. Personen mit dieser Einstellung wollen den Umweltschutz autoritär geregelt haben, weil sie dem Parlament den nötigen Reformwillen und das nötige Reformtempo absprechen.

Archivaufnahme zeigt Polizisten mit Gewehren auf dem Heldenplatz
Wien: Polizeieinheiten auf dem Heldenplatz am 15. März 1933

Klar antidemokratische bzw. diffus-autoritäre Einstellungsmuster orten die Meinungsforscher von SORA bei 24 Prozent der Bevölkerung. In dieser Gruppe finden sich mehr Menschen als früher, die sich zum Beispiel ein kommunistisches Regierungssystem in Österreich vorstellen können. Sorge bereitet den Experten, dass ein harter und teils gewaltbereiter Kern von elf Prozent einen „starken Führer“, eine „Militärregierung“ bzw. eine „Diktatur auf Zeit“ – nämlich zwei Jahre lang – wünscht.

TV-Hinweis

Mehr zur Ausschaltung des Parlaments 1933 in der „Menschen & Mächte“-Dokumentation „Weg mit der Quatschbude – die Ausschaltung des Parlaments 1933“, Freitag, 3.3.2023, ORF2, und in tvthek.ORF.at.

Gleichzeitig sprechen sich aber rund 80 Prozent der Befragten, die teils selbst mit der Demokratie unzufrieden sind, weiter für den Fortbestand der Demokratie in Österreich aus. Die paradoxe Erklärung von SORA-Meinungsforscher Günther Ogris: Es gibt neben aufrichtigen Demokratiebefürwortern eine wachsende Gruppe derer, die sich autoritäre Experimente vorstellen können, solange die persönliche Freiheit nicht allzu sehr eingeengt wird. Damit sind viele zwar demokratiemüde, aber trotzdem diktaturresistent. Weniger aus Überzeugung, sondern getrieben von einem merkwürdigen staatsbürgerlichen Eigensinn.

Archivaufnahme aus dem Parlament in Wien 1933
Geschäftsordnungskrise des Parlaments: Auf der Ministerbank v. l.: Staatssekretär Fey, Handelsminister Jakoncig, Bundeskanzler Dollfuß, Finanzminister Weidenhoffer; am Rednerpult Abgeordneter König, aufgenommen am 4.3.1933

Die autoritäre Illusion und ihre Grenzen

„Es gibt diese Sehnsucht nach einem starken Mann, allerdings ist die sehr eingeschränkt“, erklärt Ogris. „Man wünscht sich jemanden, der einem in der einen Sache, die einem wichtig ist, recht gibt und das durchsetzt. Aber in allen anderen Sachen soll er sich möglichst an die Regeln der Demokratie halten und nicht zu viel zu reden haben.“

Die große Mehrheit ist damit diktaturresistent – zumindest derzeit. „Wenn aber die Unzufriedenheit in einzelnen Fragen oder mit der Regierung und dem politischen System stärker wird, dann könnten autoritäre Stimmungen leichter mobilisierbar werden“, warnt Ogris. „Das macht mir schon Sorge.“ Dazu kommt, dass Österreich während der Coronavirus-Pandemie ein tiefe gesellschaftliche Spaltung erlebt hat. Dieser Riss hat ein bisher ungekanntes Potenzial zu weiterer Polarisierung in anderen Politikfeldern bloßgelegt.

Politologin Stainer-Hämmerle meint: „Ich fürchte weniger eine Diktatur in Österreich in Zukunft als vielmehr eine schleichende Verschiebung, nämlich dass demokratische Werte und vor allem die Bereitschaft zum Konsens abnehmen und am Ende das Allgemeinwohl leidet. Weil eben diese Fähigkeit zum Kompromiss immer weniger ausgeprägt ist und auch vor allem auf immer weniger Verständnis stößt.“

Georg Ransmayr (Text, Gestaltung), ORF TV Wissenschaft „Menschen & Mächte“, Walter Reichl (Kamera), für ORF Topos, Thomas Rützler (Schnitt), für ORF Topos

Links:

QELLE : ORF.AT

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.