Tonio Schachinger

„Schüler Gerber“ für die digitale Generation

„Schüler Gerber“ für die digitale Generation teilenKritikKulturLiteratur

Online seit heute, 10:06 Uhr

Mit seinem neuen Roman begeistert der junge österreichische Autor die Kritik von der „FAZ“ bis zur „Zeit“: Tonio Schachinger erzählt in „Echtzeitalter“ von einem Schüler, der acht Jahre Wiener Elitegymnasium durchlebt und durchleidet. Ein wunderbar leichter Ritt durch Schultraumata und das Lebensgefühl einer Generation, gepaart mit einer Prise Spott gegenüber den oberen zehntausend.Paula Pfoser

Die Lehrerinnen und Lehrer sind unfair und die Rotstiftspuren im Schularbeitsheft ziemlich penetrant, schulische Freiheiten gibt es vor allem im Raucherhof, und ohne Ralph Lauren oder andere wahnsinnig wichtige Marken ist man in der Schülerhackordnung unten durch: Dass Schachingers neues Buch so viel Zuspruch findet, liegt auch daran, dass diese Themen in Schattierungen alle irgendwie kennen. Und die Schulzeit sowieso großes Kino ist: Was da passiert, ist unendlich wichtig, im Schweren wie im Leichten, mit lebenslangem Nachhall.

Nicht umsonst existiert das Genre Schulerzählung schon seit mehr als 200 Jahren, von Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ (1785) bis zu Friedrich Torbergs „Schüler Gerber“ (1930), der zur gängigen Österreich-Schullektüre wurde – und der nun, meint die APA, von „Echtzeitalter“ abgelöst werden könnte. Mit seinem neuen Roman hat Schachinger ein locker leichtes Buch gezaubert, das das Genre ins 21. Jahrhundert transferiert, konkret in die Jahre zwischen 2012 bis 2020, mit Gaming, Handykommunikation und ganz am Ende auch der Pandemie. Wobei das Setting nicht durchgängig gegenwärtig klingt: Till Kokorda, Schachingers Protagonist, besucht das Wiener Elitegymnasium „Marianum“.

Eingang des Theresianum Wien
Architektonisch und stadtgeografisch detailgetreu porträtiert: Das „Marianum“ ist eindeutig das Wiener Theresianum

Schöne, böse Sätze

Die Lehrer zelebrieren dort immer noch das alte autoritäre Gehabe und die Kinder großbürgerliche Standesdünkel. Schon mit zehn weiß man da, was man einmal studieren will, „Jus, Wirtschaft oder Medizin“, und ab zehn werden auch Polohemden oder Poloblusen getragen, ein Leben lang. Die brutale Hackordnung schließt sogar die Nachnamen ein (nicht „-burger“ oder „-berger“, sondern bitte „-burg“ und „-berg“) und findet im Begriff „intersektionaler Loser“ seinen ultimativen sozialen Todesstoß. Einem typischen Absolventen wird es „für seine gesamte Lebenszeit als Rebellion genügen, mit 17 seinen über das Hemd gelegten Pullover schräg über eine Schulter zu binden, statt symmetrisch über beide“. Solche schönen, bösen Sätze enthält das Buch.

Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt Verlag, 364 Seiten, 25,50 Euro

Die vielen beiläufig eingestreuten, klug beobachteten Details verraten vielleicht, dass Schachinger dieses Setting gut kennt: Der heute 31-Jährige war selbst im Theresianum. Dass sein fiktives „Marianum“ die Elitekaderschule im 4. Wiener Gemeindebezirk als Vorbild hat, ist unschwer zu erkennen, mit der schönbrunnergelben Fassade und der alles umfassenden Mauer, die am besten beim Theater Akzent zu überklettern ist.

Vom „Durchrutscher“ zur Zielscheibe

Protagonist Till jedenfalls ist anders als die Oberschichtskinder, die Eltern geschieden, ein Nichtfußballer, stattdessen ein Gamer. Im Laufe der acht Jahre wird er vom Amateur, der sich in Foren herumtreibt, zu einem der zehn weltbesten Spieler von „Age of Empire 2“. Dieses wortwörtlich abseitige Interesse führt immer mehr dazu, dass aus dem „Naturtalent im Nichtauffallen“ eine Zielschiebe seines Klassenvorstands Dolinar wird.

Mit der Figur des Dolinar hat Schachinger ein Pendant à la „Schüler Gerber“ geschaffen, ein echtes Kaliber an autoritärem Charakter. Dolinars Schülerinnen und Schüler haben den Ruf, besonders angepasst zu sein. Bei minimalem Aus-der-Reihe-Fallen werden sie mit Strafen traktiert. Als Klassenlektüre setzt der KV ausnahmslos auf das, was durch reclamgelb geadelt ist – mit Vorliebe Lessing, Stifter und Grillparzer.

Das ist bei aller Brutalität oft ziemlich witzig, der verbotene Ausbruch aus dem Schulgelände auf der Jagd nach der zuhause vergessenen „Brigitta“ von Adalbert Stifter wartet mit Thriller-Qualitäten auf. Dass die Macht der Lehrerautorität aber letztlich enden wollend ist, sickert hin und wieder durch: Tills Freundin wohnt etwa in einem Palais auf dem Schwarzenbergplatz, die vorgezeichnete Karriere wird es geben, Schule ist da letztlich herzlich egal.

Tonio Schachinger sitzt an einer Wand gelehnt
Schreiben entlang der Biografie: Das Debüt des Hobbyfußballers Schachinger war ein Fußballerbuch, jetzt folgt die Auseinandersetzung mit dem Elitegymnasium

Herrndorfs „Tschick“-Gefühl

„Echtzeitalter“ ist konventionell erzählt, chronologisch geht es von der Erstbesichtigung der Schule am Tag der offenen Tür bis zur Matura 2020. Das Konventionelle wird aber durchaus raffiniert gestaltet: Schachinger fliegt manchmal über die Jahre hinweg, zoomt einmal rein, ist emotional nah dran, um wieder über die Szenerie hinweg zu sausen – Themen sowie Freundinnen und Freunde kommen und gehen, Konstanten sind nur der Albtraum an Klassenvorstand und die sukzessive wichtiger werdende Gaming-Parallelwelt.

Leichtfüßig kommt das alles daher, nicht zuletzt die Einführung in die Computerspielsphären. Schachinger schafft es mit seinen YouTube-Kanal-, Turnier- und Strategiebeschreibungen, selbst Skeptikerinnen und Skeptikern zu vermitteln, dass das Digitale tatsächlich Charme haben könnte. So wie der Roman grundsätzlich den richtigen Ton trifft, zwischen spöttischer Distanz, Analyse und Einfühlung, sodass sich zwischendurch das herzerwärmende „Tschick“-Gefühl von Wolfgang Herrndorf einstellt.

Vom kleinen Wiener Verlag zum Big Player

„Echtzeitalter“ ist Schachingers zweites Buch. Mit seinem Debüt „Nicht wie ihr“ von 2019 über ein Alter Ego von Marko Arnautovic hatte er es überraschend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Vom kleinen Wiener Verlag Kremayr & Scheriau wechselte er daraufhin zum deutschen Big Player Rowohlt.

Die Einsprengseln über österreichische Absonderlichkeiten und die (jüngere) heimische Vergangenheit wirken vielleicht deswegen manchmal so, als wären sie Richtung deutsches Publikum geschrieben. Dass dieser Heimatkunde-Crashkurs aber letztlich gar nicht stört, liegt wieder an der Leichtigkeit, die sich durch alles zieht. Unterhaltungsliteratur im besten Sinne!

Paula Pfoser (Text und Gestaltung), ORF Topos, Marlene Mayer (Schnitt), für ORF Topos

Links:

Echtzeitalter“ (Rowohlt)
Leseprobe „Echtzeitalter“ (book2look)
„Echtzeitalter“-Rezension auf fm4.ORF.atv1.0.4-production (04. April 2023, 12:05:59)

QELLE : ORF.AT

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.