Lichtermeer

Historisches Zeichen der Zivilgesellschaft

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23. Januar 2023, 05:30 Uhr

Am Montag vor 30 Jahren fand die größte Demonstration in der Zweiten Republik statt. Rund 300.000 Menschen zündeten auf dem Wiener Heldenplatz Kerzen an, um ihrem Protest gegen Rassismus und rechtspopulistische Forderungen des FPÖ-Politikers Jörg Haider Nachdruck zu verleihen. Aus den Unterstützerinnen und Unterstützern der Aktion formierte sich die bis heute bestehende NGO SOS Mitmensch.Katharina Gruber

Der Zulauf zum Lichtermeer war so groß, dass der Heldenplatz die Massen nicht mehr fassen konnte. Unzählige Menschen fanden sich am Abend des 23. Jänner 1993 ein (siehe Video). Der Anlass, gegen den demonstriert wurde, war das von der FPÖ unter Haider initiierte Volksbegehren „Österreich zuerst“, das unter anderem einen kompletten Einwanderungsstopp forderte, und mit einer rassistischen und rechtsextremen Rhetorik einherging. In den Medien wurde es auch als „Ausländervolksbegehren“ oder „Anti-Ausländer-Volksbegehren“ bezeichnet.

Friedrun Huemer, Mitinitiatorin des Lichtermeers der ersten Stunde, erinnert sich: „Es war eine spezielle innenpolitische Situation. Die Ausländerfeindlichkeit, die immer vorhanden war, wurde von Jörg Haider geschürt und näherte sich einem Höhepunkt.“ Haider vertrat rechtsextreme Positionen, deren öffentliche Äußerung zuvor in der österreichischen Nachkriegspolitik kaum möglich gewesen wäre. Zur aktuellen Zielscheibe wurden vor allem Personen, die aufgrund der damaligen Umwälzungen in der europäischen Nachkriegsordnung nach Österreich kamen: Menschen, die vor den Kriegen in Jugoslawien flüchteten oder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Osteuropa einwanderten.

Einzigartige Mobilisierung durch breites Bündnis

Dem Volksbegehren gegenüber stand das Lichtermeer, initiiert von einer Gruppe Einzelpersonen, darunter neben Huemer einige Prominente aus Kunst und Kultur, wie etwa Josef Haslinger, Willi Resetarits und Andre Heller. Aus der Gruppe ging die Menschenrechts-NGO SOS Mitmensch hervor. Ihr gelang es, ein sehr breites Bündnis aufzustellen, das zu der einzigartigen Größe der Veranstaltung führte, so Huemer: „Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, alle haben für das Lichtermeer geworben.“

Teilnehmer des Lichtermeeres mit Kerzen am Wiener Heldenplatz
Teilnehmende des Lichtermeeres mit Kerzen auf dem Wiener Heldenplatz

Dafür hätte man auch in Kauf genommen, bei den Forderungen Abstriche zu machen, sagt sie im Gespräch mit ORF Topos: „Die Forderungen, die dann stehengeblieben sind, haben die großen Parteien akzeptiert und sie haben ihre Leute mobilisiert.“ Ihr Eindruck sei es gewesen, dass die Großparteien wollten, „dass recht viele dabei sind, wenn es gegen die FPÖ geht“.

Gesetzesverschärfungen und Haiders „Mann in der Regierung“

Dass sich Regierungsmitglieder am Lichtermeer beteiligten, hinderte die SPÖ/ÖVP-Regierung unter Franz Vranitzky nicht daran, die Aufenthalts- und Asylgesetze gleichzeitig zu verschärfen. Schon 1992 hatte sie Asylrechtsverschärfungen eingeführt. Wenige Wochen nach dem Lichtermeer wurde das Aufenthaltsgesetz beschlossen, das mit Juli 1993 in Kraft trat.

„30 Jahre Lichtermeer“ als partizipative Web-Ausstellung: Dem Lichtermeer widmet sich eine neue Onlineausstellung des Hauses der Geschichte Österreich (hdgö). Die Ausstellung ist partizipativ angelegt, sodass Besucherinnen und Besucher auch eigene Fotos, Videos oder Aufnahmen von Gegenständen, die sie an das Lichtermeer erinnern, hochladen können (mehr zur Ausstellung im Video).

Von da an musste man einen Aufenthaltstitel bereits vor der Einreise beantragen und dabei schon ein bestimmtes Einkommen und Wohnraum in Österreich vorweisen, erklärt Anny Knapp von der Asylkoordination: „Ab diesem Zeitpunkt war die Zuwanderung für Menschen, die keine Anknüpfungspunkte in Österreich hatten, de facto ausgeschlossen.“ Haider veranlassten die Verschärfungen damals zu dem Kommentar, SPÖ-Innenminister Franz Löschnak sei „unser Mann in der österreichischen Bundesregierung“.

Der damalige SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky bei der Lichtermeer-Demonstration. Die von ihm geführte ÖVP/SPÖ-Regierung beschloss Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz
Der damalige SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky (2. v. l.) bei der Lichtermeer-Demonstration. Die von ihm geführte SPÖ/ÖVP-Regierung beschloss Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz.

Die Erfolge der FPÖ und ihrer Gegnerinnen und Gegner

Das Volksbegehren „Österreich zuerst“ blieb weit hinter Haiders Erwartungen zurück: Es erreichte mit rund 417.000 Unterschriften nicht einmal die Hälfte der erhofften Stimmen. Hauptforderung des Volksbegehrens war es, in der Verfassung festzuschreiben, dass Österreich kein Einwanderungsland sei. Alexander Pollak, der heute Sprecher von SOS Mitmensch ist, dazu: „Damit sind sie krachend gescheitert, und heute ist so eine Forderung auch realitätsfern. Österreich war ein Migrationsland und ist es mehr denn je.“

Einige Punkte des Volksbegehrens wurden aber in die Realität umgesetzt, beispielsweise wurden die heutigen Deutschförderklassen im Schulunterricht bereits als „Vorbereitungsklassen“ in „Österreich zuerst“ gefordert. Auch dass es bis heute kein Wahlrecht gibt für Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die dauerhaft in Österreich leben, entspricht einer Forderung des Volksbegehrens. Im Asyl- und Fremdenrecht ging die Tendenz in den letzten drei Jahrzehnten grundsätzlich in Richtung Verschärfung.

Dennoch, sagt Pollak, der Großteil der Forderungen des Volksbegehrens sei nicht umgesetzt worden, und mit dem Lichtermeer habe auch eine gegenteilige Entwicklung eingesetzt: „Es war ein Meilenstein für die österreichische Menschenrechtszivilgesellschaft, die es auch schafft, Dinge voranzubringen.

Der Menschenrechtsbeirat wurde eingesetzt, die Lehre wurde für Asylsuchende zugänglich. Wir haben Kinderabschiebungen verhindert, leider nicht alle, aber doch einige.“ Und es sei immer wieder gelungen, „die Handlungsspielräume der extremen Rechten einzuschränken, aber der Aufstieg des Rechtspopulismus hat stattgefunden, und den erleben wir auch heute noch.“

FPÖ-Migrationspolitik als politischer Mainstream

Dass rechtspopulistische Positionen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, zeigen wissenschaftliche Analysen, beispielsweise der Diskursforscherin Ruth Wodak, die der ÖVP nachgewiesen hat, dass sie „wesentliche Forderungen der FPÖ in Bezug auf Migrations- und Flüchtlingspolitik“ übernommen habe und „demensprechend eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik“ propagiere.

Dem aktuellen Koalitionspartner wird von Kritikerinnen und Kritikern oft vorgeworfen, dem wenig entgegenzusetzen. Die Lichtermeer-Initiatorin Huemer, die selbst einmal für die Grünen im Wiener Gemeinderat saß, bezeichnet den Kurs ihrer Partei in dieser Hinsicht als „sehr schmerzlich“. Pollak fügt hinzu: „Dass der Rechtspopulismus Teil des politischen Mainstreams geworden ist, hat auch dazu geführt, dass er nicht mehr als so schockierend wahrgenommen wird.“

„Von historischer Bedeutung“

Umso wichtiger sei es, sagt Pollak, „dass es eine Zivilgesellschaft gibt, die trotzdem dagegen ankämpft und Lösungsvorschläge anbietet.“ Für die Formierung dieser Zivilgesellschaft war das Lichtermeer jedenfalls von historischer Bedeutung, sagt die Historikerin Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich (hdgö): „In der Geschichte der Zweiten Republik war es der Höhepunkt im Sinne einer vereinheitlichten, geballten zivilgesellschaftlichen Kraft, die hier zutage getreten ist. Das Lichtermeer ist von historischer, aber auch von aktueller Bedeutung, weil das Thema des Umgangs mit Migration und Flucht bis heute aktuell ist.“

Katharina Gruber (Text und Gestaltung), ORF TV Bildung, Wissenschaft und Zeitgeschehen, Silvia Heimader (zusätzliche Recherche), multimediales Archiv, Annette König (Kamera), Kafeela Adegbite (Schnitt), beide für ORF Topos

Sendungshinweis: zeit.geschichte, 11.02.2023

Links:

v1.0.4-production (14. March 2023, 10:02:17)

QELLE : ORF.AT

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