NUR DER MANN IM MOND SCHAUT ZU
RAUMFAHRT
Der Wettlauf ins All erlebt eine Renaissance – plötzlich will man wieder „zurück zum Mond“.
Sie ist so groß wie ein Fußballfeld. Mit ihren 450 Tonnen kreist sie alle 93 Minuten mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern einmal um die Erde. Die Internationale Raumstation (ISS) gilt seit 24 Jahren als der am weitesten entfernte Außenposten der Menschheit. Doch ihre Zukunft ist ungewiss. Sie zeigt Ermüdungserscheinungen, Risse und altersschwache Teile, für die es keine Herstellergarantie mehr gibt. Ein gleichwertiges multinationales Pendant ist nicht in Planung, dafür hat sich die Konkurrenz in der unmittelbaren Nachbarschaft niedergelassen. Der chinesische „Himmelspalast“ Tiangong ist seit Juni 2022 ständig besetzt und soll vorerst 15 Jahre in der Umlaufbahn bleiben. Nur ein Fünftel so groß wie die ISS, wiegt die Raumstation um die 90 Tonnen und hat ebenfalls die Funktion eines Labors. Auch wird die Liste jener Länder, die im Weltall mitmischen wollen, immer länger. Entsprechend engagiert sind kommerzielle Unternehmen, die Versorgungsflüge in den Orbit ebenso anbieten wie Vergnügungsflüge für Superreiche.
Tatsächlich herrscht in der erdnahen Kreisbahn, vor dem Panorama wechselnder Sternenbilder, wandernder Planeten und kreuzender Sternschnuppen, emsiges Treiben. Mehr als 8.800 Satelliten arbeiten derzeit dort aktiv, die Hälfte davon stammt aus den USA. Auf einer Flughöhe von 400 Kilometern kreist die ISS, 30 Kilometer darunter die Tiangong. So kommen sie sich nicht in die Quere. Beide sind mit freiem Auge von der Erde aus sichtbar. Erstere ist aufgrund der Größe einfacher zu orten. Sie bewegt sich von West nach Ost, ähnelt im Vorbeiflug der hell leuchtenden Venus und verblasst, wenn sie sich in den Erdschatten bewegt. Bereits in den kommenden sechs Jahren könnte dieses Dauerlicht erlöschen und kontrolliert auf den einsamsten und unzugänglichsten Ort der Welt, genannt „Point Nemo“, in den Pazifik stürzen. Diesen Punkt zwischen Chile und Neuseeland nennt man „Friedhof der Raumschiffe“.
Es war der 20. November 1998, als das erste Modul der ISS in die Erdumlaufbahn flog. Zwölf Jahre und mehr als 40 Flüge waren notwendig, um alle Bauteile zu befördern und diese im Weltall zusammenzubauen. An diesem multilateralen Projekt sind fünf Weltraumagenturen aus der ganzen Welt beteiligt: die US-Raumfahrtbehörde Nasa, die russische Roskosmos, die europäische ESA sowie die kanadische CSA und die japanische Jaxa. Elf europäische Länder sind mit dabei. Die Vereinigten Staaten wollten von Anfang an internationale Mitwirkende haben. Solche die zwar nicht gleichberechtigt sind, aber mit verschiedenen Komponenten einen Beitrag leisten können.
Beachtliche Erfolgsbilanz
Bisher waren 263 Astronauten aus 20 Nationen auf der Raumstation. Aber auch immer wieder Weltraumtouristen. Zuletzt teilten sich Jeff Bezos, Elon Musk und Richard Branson das Geschäft mit regelmäßigen Ausflügen in die Schwerelosigkeit, erst letztes Jahr hat auch Russland wieder damit begonnen, vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan Touristen zu befördern. Abgewickelt werden die Reisen über die Weltraumbehörde Roskosmos. Das ist jene, von der es im Juli 2022 hieß, dass sie sich ganz aus der ISS zurückziehen werde. Roskosmos-Direktor Juri Borissow kündigte an, Russland werde die ISS verlassen und den Bau einer eigenen Raumstation anstreben. Sergej Krikalew, der Chef des Programms für bemannte Raumfahrt, ruderte aber bald zurück und sagte, dass man auch nach 2024 bleiben werde, da es in der nahen Gegenwart keine Alternativen gebe. Eine gewisse Unsicherheit bleibt.
Die ISS befindet sich seit 24 Jahren im All. In rund 400 Kilometer Höhe kreist sie in 93 Minuten einmal um die Erde.- © getty images / Science Phot / Sebastian Kaulitzki
Entsprechend symbolträchtig und überaus harmonisch angelegt war dann auch im Oktober der erste gemeinsame Flug der USA und Russlands seit dem Ukraine-Krieg. Eine SpaceX-Kapsel, besetzt mit einer russischen Kosmonautin und drei Astronauten, erreichte planmäßig nach einer 30-stündigen Reise die ISS. Als Mitte Dezember ein Leck am angedockten Sojus-Raumschiff MS-22 auftrat, war die friedvolle Zusammenarbeit der gesamten Crew notwendig. Sie funktionierte reibungslos.
Ebenso solidarisch verbrachte der ehemalige Nasa-Astronaut Scott Kelly mit dem russischen Kosmonauten Mikhail Kornienko ganze 340 Tage im All. Seither ist der inzwischen pensionierte Kelly eine Berühmtheit und tatsächlich vom erdnahen All in der kriegsgeprägten Realität auf der Erde angekommen. Er ist Botschafter für die Fundraising-Plattform United24 und engagiert sich auf internationaler Ebene für die Ukraine.
Hinsichtlich der jüngsten Entwicklungen sagte Kelly vor kurzem in einem Interview, dass Wladimir Putin die ISS brauche. „Es geht vor allem um Russlands Prestige in der bemannten Raumfahrt“, erklärte der Weltraum-Veteran. Außerdem könne man die russischen Komponenten der ISS nicht vom Rest lösen. Es überwiegen pragmatische Überlegungen, denn die Systeme an Bord hängen voneinander ab. Auch sei sowohl die russische als auch die Nasa-Expertise erforderlich. Man bedürfe sich also gegenseitig, um einen unproblematischen Ablauf zu garantieren. Faktisch ist die Internationale Raumstation der letzte große Bereich, in dem Russland noch mit westlichen Ländern zusammenarbeitet.
Kelly machte gleichzeitig öffentlich deutlich, dass sich seine Freunde innerhalb des russischen Raumfahrtprogramms, darunter aktuelle und ehemalige Kosmonauten, für den russischen Krieg schämen. Eine ähnliche Beobachtung hat der zweite deutsche Astronaut im All, Matthias Maurer, auf Twitter geteilt. Er kehrte im Mai auf die Erde zurück. „Als wir über Europa geflogen sind, dachte ich: Da fehlt ein Land. Die Ukraine war total schwarz.“ Er habe Blitze gesehen und gewusst, dass dort Raketen einschlagen. Die gesamte Crew sei entsetzt gewesen. Momentan besteht die Mannschaft aus je drei amerikanischen und russischen Raumfahrern sowie einem japanischen.
Im All verschwinden nationale Grenzen. Ungeachtet ihrer Herkunft erleben viele Astronauten eine gewisse kognitive Veränderung, bekannt als „Übersichtseffekt“. Damit ist jene tiefgreifende Erkenntnis gemeint, die die Erde aus der Ferne als ein zerbrechliches System aussehen lässt. Dieses Phänomen erlebte auch Neo-Raumfahrer William Shatner alias Captain T. Kirk als 90-Jähriger auf seiner ersten Reise in den echten Weltraum. Er umschrieb seine Eindrücke so: „Der Kontrast zwischen der unerbittlichen Kälte des Weltraums und der nährenden Erde unter mir erfüllte mich mit überwältigender Traurigkeit. Jeden Tag zerstören wir mit unseren Händen den Planeten: Meine Reise ins Weltall sollte ein Fest werden; stattdessen fühlte es sich wie eine Beerdigung an.“
Sowohl die Schönheit als auch die Zerstörung auf der Erde sind am besten aus der Cupola, dem Weltraumfenster auf der ISS, zu beobachten. Die Fotos der Nasa zeugen umfangreich von ihrem Zustand: Sie dokumentieren das sterbende Korallenmeer in der Nähe von Australien, fangen wütende Hurrikans ein, aber auch den Ätna an der Küste der italienischen Insel Sizilien, bevor er ausbricht. Die Bilder dokumentieren Ölkatastrophen, Wüstenbildung, schmelzende Gletscher, Wirbelstürme und den Raubbau an der Natur und Umwelt. Ergänzt wird sie nun von jenen Aufnahmen, die vom chinesischen Konterpart, der Tiangong und den Shenzhou-14-Astronauten, kommen. Der kleinere Himmelsbeobachter schickt beispielsweise Bilder von der Sahara, dem Qinghai-See und der Straße von Hormus.
Offiziell hat sich auch Chinas orbitaler Außenposten der friedlichen Nutzung des Weltraums verschrieben. Zur Teilnahme an Experimenten wurden andere Nationen eingeladen, bisher hat Peking neun Projekte aus 17 Ländern ausgewählt. Wegweisend für das bisherige Machtgefüge war das „Wolf-Amendment“, benannt nach dem republikanischen Kongressabgeordneten Frank Wolf. Das vom US-Kongress 2011 verabschiedete Gesetz untersagt jegliche Zusammenarbeit der Nasa mit China und damit verbundenen Organisationen. Davon betroffen sind seitdem auch SpaceX, Axiom und Blue Origin, da sie Bundesmittel erhalten. China blieb seither nichts anderes übrig, als an einer eigenen Weltraumstrategie zu tüfteln. Erste Anstrengungen gab es schon vor drei Jahrzehnten und es scheint, dass dieser lange Weg von Erfolg gekrönt ist: Die Tiangong wird ausschließlich in China gebaut, betrieben und entsprechend verwaltet.
Tiangong ist autonom
Für China ist die Tiangong somit zum Aushängeschild für absolute Eigenständigkeit geworden und sie ist bereits ein bedeutender Mitspieler hinsichtlich der sich verändernden Machtkonstellationen im All. Die Station selbst besteht aus drei Modulen, die separat gestartet und im Weltraum verbunden wurden. Im Vergleich dazu hat die ISS 16 Module. Vom Design her orientiert sich China an der Sowjetzeit, die Tiangong gleicht der Raumstation Mir aus den 1980er Jahren, natürlich modernisiert und auf den neuesten Stand der Technik gebracht. Nach der Fertigstellung im November 2022 beherbergte sie während der Rotation der Crew erstmals für fünf Tage eine Besatzung von sechs Personen. Sie soll 15 Jahre im Orbit bleiben.

– © getty images / gremlin
Für Dezember 2023 plant China den Start eines neuen Weltraumteleskops namens Xuntian. Es soll ein noch einen viel breiteren Blickwinkel als das Hubble-Weltraumteleskop haben. Es entfaltet sich folglich eine neue Ära im Weltraum: Die Tiangong-Station beginnt ihr Leben genau zu jenem Zeitpunkt, an dem es erste Pläne gibt, die ISS in den Ruhestand zu schicken. Jedenfalls hat sich China nun mit diesem Erfolg neben den USA und Russland in die Liga der Weltraumsupermächte katapultiert. Als lachender Dritter, der zwar autark und autonom ist, aber doch andere ins Boot locken will.
Bisher wurde der Kampf ums All immer zwischen den USA und Russland ausgetragen: 1957 kam es zum Sputnik-Schock, als Moskau damit punktete, dass der Satellit Sputnik 1 als Erster um die Erde kreiste. Und auch die Nase vorne hatte, als 1959 die Hündin Laika als erstes Lebewesen die Erde umkreiste. Oder im gleichen Jahr, als Luna 2 als erstes Objekt auf dem Mond einschlug. Und der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin 1961 den ersten bemannten Raumflug schaffte. Der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy reagierte schließlich und rief dazu auf, dass der erste Mann auf dem Mond ein US-Amerikaner sein müsse. Die historische Mission der Apollo 11 erreichte 1969 nach drei Tagen den Mond: Mit an Bord: Neil Armstrong, Michael Collins und Edwin Aldrin. Am 21. Juli um 3:51 Uhr MEZ betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond: Die US-Flagge wurde gehisst. Es war in erster Linie eine Demonstration amerikanischer Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion. In den Jahren danach betraten weitere US-Astronauten den Mond, bis die Begeisterung für den Trabanten aufgrund anderer Gewichtungen wieder abflaute.
Den Mond im Visier
Es gab zwar viele Versuche und Überlegungen, doch erst seit kurzem ist der Mond wieder zum Sehnsuchtsort geworden. Die Nasa selbst bezeichnet 2022 als ein überaus produktives Jahr. Es werde als eines der erfolgreichsten für Nasa-Missionen in die Geschichtsbücher eingehen, hieß es von Nasa-Administrator Bill Nelson. Auch im Jahr 2023 gebe es so viel, worauf man sich freuen könne: Weitere atemberaubende Entdeckungen des Webb-Teleskops, Klimamissionen, die den Zustand der Erde dokumentieren, die Wahl der ersten Astronauten, die seit über 50 Jahren nun zum Mond fliegen sollen, und mehr. Nelson betonte, dass die Nasa endlich beweisen könne, dass die Reichweite der Menschheit schier grenzenlos sei.
Viele Länder wollen öffentlichkeitswirksam dabei sein, um die Karten neu zu mischen: 2023 möchte die ESA den Satelliten „Juice“ auf den Weg zum Jupiter schicken und die „Sentinel-1C“ für Präzisionsbilder von der Erdoberfläche entsenden. Die asiatische Hightech-Nation Japan und die Raumfahrtagentur Jaxa will den Mond und den Mars erkunden und peilt eine erstmalige Landung eines eigenen Astronauten auf dem Mond an. Eine Mars-Erkundungsmission steht 2024 bevor. Indien macht sich startklar zu einer Mission zur Sonne und einem ersten Mondlandeversuch. Angedacht sind auch der Mars und die Venus. Hingegen investieren die Arabischen Emirate in den nächsten zehn Jahre 800 Millionen Euro in die Raumfahrt und setzen dabei auf eine Mischung aus staatlichen und privaten Projekten. Auf dem Programm stehen neben dem Mars auch die Venus und der Asteroidengürtel.
China hat sich vorgenommen, bis 2025 ein wiederverwendbares Raumschiff zum Einsatz zu bringen. Man will außerdem Gesteinsproben von den Polarregionen des Mondes zur Erde holen, 2028 Proben vom Mars auswerten und 2029 den Jupiter erkunden. Auch wird mit Russland an Plänen für eine Forschungsstation auf dem Mond gearbeitet. Geplant ist zudem die Landung auf einem erdnahen Asteroiden. Am bemerkenswertesten ist, dass China Pläne zum Bau einer gemeinsamen Mondbasis mit Russland angekündigt hat – obwohl kein Zeitplan für diese Mission festgelegt wurde. Trotz der internationalen Isolation seit dem Ukraine-Krieg plant Russland, Mitte 2023 die Raumsonde „Luna 25“ zum Mond zu bringen, die eigentlich schon längst unterwegs sein sollte. Nach vielen technischen Problemen soll es Roskosmos-Angaben zufolge nun zwischen Juni und Oktober so weit sein. „Luna 25“ ist Teil des russischen Mondprogramms, das schon seit längerer Zeit die Errichtung einer Basis auf dem Erdtrabanten vorsieht. Beachtlich ist der Griff Israels nach dem Mond. Nach dem Scheitern der „Beresheet“ 2019 arbeitet man an einer erfolgreichen Umsetzung.
Auch die USA haben sich hohe Ziele gesetzt. Sie wollen spätestens bis 2024 wieder einen Astronauten auf dem Mond haben. Am 11. Dezember raste die unbemannte Orion-Kapsel der Nasa um den Mond und zurück durch den Weltraum und beendete die Eröffnungsmission des Artemis-Mondprogramms auf den Tag genau 50 Jahre nach der letzten Mondlandung von Apollo. Das Projekt, einen autarken Lebensraum auf dem Mond zu bauen, stehe allen Nationen offen, so die Nasa. Bisher sind 19 Länder als Partner beigetreten. China tut dem gleich mit einer quasi „öffentlichen“ Aufforderung einer gemeinsamen Mondmission. Die wirklich entscheidende Frage ist, wer wen überholen und der Erste sein wird. Bisher ist es nur staatlichen Programmen gelungen, auf dem Mond zu landen. Bereits seit Jahren wollen aber auch private Unternehmen auf den Mond. Dabei legen sie ein wahrhaft erstaunliches Tempo vor: Mitte Dezember ist eine Rakete vom Typ Falcon 9 des US-Raumfahrtunternehmens SpaceX mit einem kommerziellen japanischen Mondlander in Richtung Mond gestartet. „Hakuto“ (Bedeutung im Japanischen: „Weißer Hase“) hob vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral ab. Sie soll bis Ende April 2023 ankommen.
In den Startlöchern stehen auch die US-Firmen Astrobotic und Intuitive Machines. Sie klügeln an einem direkteren und kürzeren Weg zum Mond. Ob sie der Hakuto zuvorkommen, ist noch ungewiss. Der Chef von ispace, Takeshi Hakamada, sieht das gelassen: „Uns ist es ziemlich egal, wer zuerst ankommt“, sagte er im Magazin „New Scientist“. Hakamada hat eine besondere Vision für 2040: Eine kleine Stadt auf dem Mond namens „Moon Valley“ mit 1.000 Bewohnern samt Infrastruktur zu bauen. Jedes Jahr sollen tausende Besucher angelockt werden. Falls dieser Zukunftstraum umgesetzt wird, ist er im Moment noch so wenig fassbar wie die ISS, als sie vor Jahrzehnten auf dem Reißbrett konzipiert wurde. Niemand hätte ahnen können, dass die unwahrscheinlichste Maschine, die die Menschheit jemals gebaut hat, so lange über uns im Nachthimmel schweben würde, von der beachtlichen Größe eines Fußballfelds.
RAUMFAHRT
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